Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2007; 17 - A21
DOI: 10.1055/s-2007-988730

Die Leitlinie für die Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen der Deutschen Rentenversicherung im Vergleich zur bisherigen Praxis

R Kaluscha 1, A Leitner 1, E Jacobi 1
  • 1Forschungsinstitut für Rehabilitationsmedizin an der Universität, Ulm

Frage: Die Deutsche Rentenversicherung hat Prozessleitlinien für die medizinische Rehabilitation erstellt [1]. Am Beispiel der Leitlinie für die Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen wird untersucht, inwieweit bisherige Praxis und Leitlinie Übereinstimmen und welche Veränderungen bzw. Probleme für die Praxis daraus resultieren. Zudem wurde untersucht, ob es häufige Komorbiditäten gibt, die in der auf ein einziges Krankheitsbild gerichteten Leitlinie evtl. nicht berücksichtigt wurden. Dazu wurden 18.314 anonymisierte Reha-Entlassungsberichte aus der Forschungsdatenbank „Patientenkonto“ [2] des rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbundes Ulm computergestützt ausgewertet. Zusätzlich wurden 80 Entlassungsberichte manuell auf Leitlinientreue, Gründe für Abweichungen und evtl. Besonderheiten geprüft.

Methode: Das Forschungsinstitut für Rehabilitationsmedizin an der Universität Ulm verfügt über eine Forschungsdatenbank (Patientenkonto) mit 100.000 anonymisierten Reha-Entlassungsberichten. Dabei handelt es sich um die einheitlichen Entlassungsberichte in der medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Rentenversicherung aus 6 Reha-Kliniken der Jahre 1998–2006. Darunter befinden sich 18.314 Fälle, die eine unter die Leitlinie fallende Hauptdiagnose nach ICD-10 aufweisen. Bei 10.354 dieser Fälle sind die Leistungsdaten aus dem Blatt 1b verfügbar. Allerdings nutzte die damalige Landesversicherungsanstalt Württemberg einen 64 Punkte umfassenden hauseigenen Leistungskatalog, so dass für 8.780 Fälle die Leistungsdaten in dieser Klassifikation vorlagen. Für weitere 1.575 Fälle waren Leistungsdaten nach der Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL 2000, [4]) verfügbar. Die Leistungsdaten beider Klassifikationen wurden auf die in der Leitlinie definierten Therapiemodule abgebildet, soweit sich dort eine Entsprechung fand. Die Leitlinie unterscheidet „evidenzbasierte Therapiemodule“ (ETM) und „Zusatztherapiemodule“ (ZTM). Sie gibt zusammen mit der KTL Standards für die Therapie, z.B. bezüglich Qualifikation der Therapeuten, Zeitdauer und Gruppengröße, sowie für die „evidenzbasierte Therapiemodule“ einen Mindestanteil von Rehabilitanden, die eine solche Therapie erhalten sollen, vor. Bei der Auswertung wurde auf eine Überprüfung, ob Zeitdauern und Gruppengrößen exakt mit der Leitlinie bzw. den Vorgaben der KTL übereinstimmen, verzichtet und nur geprüft, ob Leistungen aus dem jeweiligen Therapiemodul aufgeführt wurden. Zusätzlich wurden die weiteren Diagnosen und Nachsorgeempfehlungen aus dem Blatt 1 sowie mittels Computerlinguistik [5] der Freitext des Blattes 2 in die Auswertung einbezogen.

Ergebnis: Im Soll-Ist-Vergleich der Therapie erreichen nur die Module ETM01 (Bewegungstherapie, 90% Soll vs. 99,91% Ist) und – cum grano salis – ETM05 (Information und Motivation, 95% vs. 93,34%) die in der Leitlinie geforderte Patientenmindestquote. Bei ETM02 (Rückenschule, 90% vs. 62,76%) und ETM04 (Schmerzbewältigung, 80% vs. 56,82%) bestehen mäßige Abweichungen, während es bei ETM03 (Entspannungstraining, 80% vs. 11,23%), ETM06 (Psychologische Beratung und Therapie, 13,25% vs. 30%) und ETM07 (Arbeitsbezogene Therapien/Ergotherapie, 10,35% vs. 50%) deutliche Diskrepanzen gibt. Im Blatt 1b werden ETM08a (Soziale und sozialrechtliche Beratung, 50% vs. 0,39%), ETM08b (Unterstützung der beruflichen Integration, 20% vs. 0,17%) und ETM08c (Organisation der Nachsorge, 20% vs. 0,02%) so gut wie überhaupt nicht aufgeführt, so dass auch hier erhebliche Diskrepanzen zur Leitlinie bestehen. Etwa drei Viertel der Rehabilitanden erhielten Leistungen aus den Modulen der „Zusatztherapie“: ZTM01 (Elektrotherapie, 65,89%), ZTM02 (Massage, 74,81%), ZTM03 (Thermotherapie, 81,82%) und – in etwas geringerem Maße – aus ZTM04 (Hydrotherapie/Balneotherapie, 39,78%). Zwischen den beiden Klassifikationen bestanden dabei Unterschiede, besonders auffällig bei ETM03 und ETM06, wo beim hauseigenen Leistungskatalog, der in diesen Bereichen weniger differenziert ist, auch weniger Nennungen erfolgten. Umgekehrt ist er bei der physikalischen Therapie differenzierter; hier erfolgten auch mehr Nennungen entsprechender Leistungen der Module ZTM01, ZTM03 und ZTM04. Die häufigsten Komorbiditäten nach ICD-10 waren E66 (Adipositas, 30,75%), E78 (Störungen des Lipoproteinstoffwechsels, 16,68%) und I10 (Hypertonie, 15,41%). Häufig wurden auch weitere Erkrankungen des Bewegungsapparates (Gon- und Coxarthrose, Schulterläsionen) sowie depressive Episoden oder somatoforme Störungen genannt.

Diskussion: Sowohl Leitlinie als auch bisherige Praxis setzen auf Bewegungstherapie und Patientenschulung. Die Leitlinie misst der in der Praxis häufig eingesetzten physikalischen Therapie einen eher geringen Wert zu und definiert sie als freiwillige Leistungen im Rahmen der Zusatzmodule. Zugleich fordert sie eine Ausweitung der Leistungen in den Bereichen Psychologie, Ergotherapie und Sozialmedizin bzw. Sozialdienst. Dies dürfte Veränderungen in der Personalstruktur der Reha-Einrichtungen nach sich ziehen. Bei der konkreten Ausgestaltung der Therapie bleibt innerhalb der Therapiemodule Spielraum, so dass keine simple „Kochbuchmedizin“ entsteht. Dieser Spielraum ist auch erforderlich, damit Präferenzen des Rehabilitanden und Komorbiditäten berücksichtigt werden können: einem Rehabilitanden mit der Begleitdiagnose Gonarthrose wird der Arzt andere Leistungen aus dem Modul Bewegungstherapie als einem Rehabilitanden mit Schulterläsion verordnen. Viele Rehabilitanden erwarten in der Rehabilitation noch die aus dem Kurwesen bekannten passiven Therapien wie z.B. Massage oder Peloidpackungen. Will eine Klinik die Vorgaben der Leitlinie konsequent umsetzen, dürfte einige Überzeugungsarbeit erforderlich werden. Hier öffnet sich für die Kliniken auch ein Spannungsfeld zwischen Leitlinientreue, Patientenzufriedenheit und Wirtschaftlichkeit. Die Untersuchung hat aber auch gezeigt, dass die Dokumentationspraxis, z.B. die verwendete Klassifikation, Auswirkungen auf die (scheinbare) Leitlinientreue hat. So relativiert sich etwa die sehr geringe Anzahl der Nennungen sozialmedizinischer bzw. berufsbezogener Beratung, wenn man berücksichtigt, dass bei 21,9% der Rehabilitanden im Blatt 1 als Nachsorgeempfehlung die Prüfung berufsfördernden Leistungen und bei 6,9% eine stufenweise Wiedereingliederung angekreuzt wird. Auch im Freitext finden sich gelegentlich Hinweise auf entsprechende Beratungen durch den behandelnden Arzt, die sich aber nicht in einer formalen Leistungsdokumentation im Blatt 1b niedergeschlagen haben. Einerseits bestehen in diesen Bereichen Defizite [6], andererseits erscheinen diese Defizite aufgrund der Dokumentationspraxis ausgeprägter, als sie tatsächlich sein dürften. Kliniken werden also bei Leistungsdokumentation künftig mehr Aufwand treiben müssen, wenn sie nicht den Anschein erwecken wollen, die Vorgaben der Leitlinie zu verletzen.

Anzumerken ist noch, dass die Leitlinie nur die Therapie nach KTL während der Reha-Maßnahme vorgibt. So werden z.B. Fragen der Medikation nicht behandelt. Offen bleibt auch, warum nur mindestens 20% der Rehabilitanden bei Leistungen aus ETM08b (Unterstützung der beruflichen Integration) erhalten sollen, wenn doch eine erheblich Gefährdung bzw. Minderung der Erwerbsfähigkeit die Zugangsvoraussetzung zur Rehabilitation darstellt (§10 SGB VI).

Ferner stellt sich auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit indikationsorientierter Leitlinien und Zuweisung zu Reha-Einrichtungen, wenn man bedenkt, dass Rehabilitanden mit Rückenschmerzen durchschnittlich 2,25 weitere Diagnosen, oft aus verschiedenen Indikationen, aufweisen.

Literatur: [1] Deutsche Rentenversicherung: Leitlinie für die Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen Online: http://www.deutsche-rentenversicherung.de/nn_10892/SharedDocs/de/Inhalt/Zielgruppen/01__sozialmedizin__forschung/02__qualitaetssicherung/prozessleitlinien.html (30.05.2007) [2] Kaluscha R, Jacobi E: Eine Datenbank zur Effektivitätsbeurteilung: Das Datenkonzept des rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbundes Ulm. DRV-Schriften 20 (2000).

[3] Deutsche Rentenversicherung: Leitfaden zum einheitlichen Entlassungsbericht in der medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Rentenversicherung, 2. Auflage

Online: http://www.deutsche-rentenversicherung.de/nn_10892/SharedDocs/de/Inhalt/Zielgruppen/01__sozialmedizin__forschung/02__qualitaetssicherung/dateianh_C3_A4nge/leitfaden__entlassungsbericht,property=publicationFile.pdf/leitfaden_entlassungsbericht (30.05.2007)

[4] Deutsche Rentenversicherung: KTL – Klassifikation therapeutischer Leistungen

Online: http://www.deutsche-rentenversicherung.de/nn_10900/SharedDocs/de/Navigation/Service/Zielgruppen/Sozialmedizin__Forschung/klassifikationen/KTL__node.html__nnn=true (30.05.2007)

[5] Kaluscha R: Informationsgewinnung aus Freitexten in der Rehabilitationsmedizin. Dissertation, Medizinische Fakultät, Universität Ulm (2005).

Online: http://vts.uni-ulm.de/doc.asp? id=5265 (30.05.2007)

[6] Kaluscha R, Leitner A, Jacobi E: Rehabilitation und Arbeitswelt: Eine (computerlinguistische) Auswertung von 67.599 Entlassungsberichten. DRV-Schriften 72 (2007).

Auch online: http://www. deutsche-rentenversicherung.de/nn_10908/SharedDocs/de/Navigation/Service/Zielgruppen/Sozialmedizin__Forschung/tagungen__veranstaltungen/reha__Kolloquium__node.html__nnn=true