PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(1): 87-89
DOI: 10.1055/s-2007-986381
Resümee

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Im Dialog sein mit den eigenen Vorurteilen

Kirsten von  Sydow, Steffen  Fliegel
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Publication Date:
28 February 2008 (online)

Obwohl im Alter immer mehr Frauen und Männer als psychisch krank diagnostiziert werden, werden ältere Menschen derzeit fast gar nicht psychotherapeutisch behandelt: Mit zunehmendem Alter sinkt die Rate der von den gesetzlichen Krankenkassen bewilligten (und vermutlich auch der beantragten) Psychotherapien rapide (Grobe et al. 2007). Insofern haben TherapeutInnen auch kaum Erfahrungen in der klinischen Arbeit mit reifen Menschen - was vermutlich an beiden Seiten liegt, die einander bisher eher skeptisch sehen. Die therapeutische Zurückhaltung überrascht nicht, da in der Psychotherapieaus- und -weiterbildung auf die Arbeit mit älteren Patientinnen und Patienten nicht hinreichend vorbereitet wird, trotz verdienstvoller Einzelinitiativen, von denen viele zurückgehen auf die Arbeit von Professor Radebold in Kassel.

Mit unserem Themenheft hatten wir uns vorgenommen, die Möglichkeiten, Herausforderungen und Grenzen der psychotherapeutischen Arbeit mit älteren und hochbetagten Menschen sowie die dafür relevanten Rahmenbedingungen aufzuzeigen.

Was also ist wesentlich bei der therapeutischen Arbeit mit älteren Menschen?

Zuallererst - und hier besteht weitgehende Einigkeit zwischen allen unseren Autorinnen und Autoren - die Bereitschaft, unterschiedliche Erkenntnisse zu integrieren, sowohl solche aus verschiedenen Grundlagenwissenschaften als auch solche aus verschiedenen Therapierichtungen. Gerade das hohe Lebensalter verlangt danach, dass multiple medizinische, biologische, psychologische und soziologische Faktoren in der Therapie berücksichtigt werden.

Folgende Einzelaspekte erscheinen uns besonders wichtig:

Wissen und Neugier des Therapeuten bezüglich der Situation der Klienten: Biografische Prägung und Kohorteneffekte. Sehr hilfreich dabei ist der Einsatz von Genogrammen. Gesundheitliche Probleme und Schmerzen sowie Gedächtnisprobleme bis hin zu Demenzen. Bei ernsten Gesundheitsproblemen ist die Zusammenarbeit mit Ärzten wichtig. Antizipation und Exploration von möglicherweise negativen oder ambivalenten Haltungen und Übertragungen, von Skepsis, Angst und Scham Älterer: Negative Einstellungen zu Psychotherapie grundsätzlich Negative Einstellungen gegenüber deutlich jüngeren Therapeuten/ Therapeutinnen: Es können Zweifel an deren Kompetenz und Eignung bestehen, aber auch Neid auf deren Jugend, die die Übertragung prägen können. Es ist nützlich, gleich beim Erstgespräch zu erfragen, wie es der ältere Mensch erlebt mit einem jüngeren Therapeuten zu arbeiten. Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen, Ängsten und Gegenübertragungsimpulsen angesichts älterer Klienten: Fremdheit Probleme mit der „umgekehrten” Altersrelation, Sorge in eine schwache „Kind-” oder gar „Enkel-Position” zu geraten, da der alte Klient bezüglich Lebenserfahrung überlegen ist. Wünschenswerte Grundhaltung: Orientierung an einer differenziellen Perspektive, die berücksichtigt, dass große interindividuelle und intraindividuelle Unterschiede bestehen in Zusammenhang mit multiplen biopsychosozialen Einflussfaktoren Respekt Ressourcenorientierung Dialektik zwischen Veränderungsimpulsen und Akzeptanz des Unabänderlichen und des damit einhergehenden Schmerzes („doppelter Blick” auf Verluste/Defizite und Ressourcen) Sensibilität für (reaktualisierte) Traumatisierungen, auch dafür dass im Alter manche Dinge belastender erlebt werden können als in jüngeren Jahren (z. B. Wohnungswechsel, Tod eines Haustiers) Anpassung von Setting und Vorgehen an körperliche und neuropsychologische Alternsveränderungen Trivial aber gar nicht erwähnt bisher: Barrierefreie Praxiszugänge sind für ältere Menschen mit Gehbehinderungen wesentlich. Aufgrund verlangsamter Lernprozesse im Alter gilt für die Therapie: „start low and go slow” Altersbedingte Einschränkungen des Arbeitsgedächtnisses verlangen eine größere Strukturierung und Klarheit in der Psychotherapie (insbesondere auch in stationären Einrichtungen, deren Räumlichkeiten, Angebote und Abläufe verwirren können) Aufgrund des geringeren Bewegungsradius erfolgt im Alter oft eine stärkere Konzentration auf eigene Wohnung und deren Nahumgebung; das verlangt räumlich nahe oder besser noch aufsuchende psychotherapeutische Angebote (existieren in Deutschland bisher praktisch nicht) Anpassung von Setting und Vorgehen an Alternsveränderungen des psychosozialen Umfelds: Mit zunehmendem Alter erfolgt eine Konzentration auf wenige bedeutsame Beziehungen, die zunehmend wichtiger werden und zu denen z. B. bei Pflegeabhängigkeit Abhängigkeitsbeziehungen entstehen können. Insofern ist die Berücksichtigung zentraler Bezugspersonen in der Therapie Älterer ähnlich wichtig wie in der Kindertherapie. Doch Arbeit im Paar- oder Familiensetting erfolgt bisher fast nie mit älteren Indexpatienten, wird auch kaum von den Kassen bezahlt. Doch neben Partner/in und Kindern werden im Alter oft noch ganz andere Menschen zu zentralen Bezugspersonen wie weitere Verwandte, Nachbarn, Freunde oder professionelle Bezugspersonen (Ärzte, Pflegekräfte, Pfarrer) - diese werden bisher am stärksten in der systemischen Therapie berücksichtigt, welche bisher jedoch keine Kassenleistung ist. Die Betreuung Behinderter, chronisch Kranker und insbesondere die von Demenzkranken ist hochgradig belastend für die Angehörigen - bis zu 50 % erkranken selbst dabei körperlich oder seelisch. Hier sind dringend mehr ambulante und stationäre Pflegeangebote nötig, aber auch psychosoziale Hilfen für die betreuenden Angehörigen. Alte Menschen mit psychischen Störungen benötigen oftmals mehr als Psychotherapie. Daneben ist die somatische Behandlung körperlicher Erkrankungen sowie z. T. auch Sozial-, Schuldnerberatung, Suchtbehandlung oder die Einbindung in Selbsthilfegruppen bedeutsam.

Der Blick über den Gartenzaun ist bei der Therapie mit älteren Menschen jedoch nicht nur wichtig in Hinblick auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Nachbardisziplinen der Psychotherapie und die Überwindung des Schulendenkens. Mehr noch: Gerade Altern, Krankheit und Tod verlangen es Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ab, sich der existenziellen Dimension des Lebens und Fragen nach dem Sinn des Lebens zu stellen - des Lebens ihrer alten Patientinnen und Patienten, aber letztlich natürlich auch des eigenen Lebens. Das Gewahrwerden der Endlichkeit und der Unausweichlichkeit des Todes weckt bei allen Menschen Ängste. Hier ist Wissenschaft nicht hinreichend, da sich existenziell-spirituelle Fragen stellen, die nicht normativ beantwortet werden können. Dabei helfen manchen PatientInnen und manchen TherapeutInnen Religion, Kunst, Literatur und Musik. Eckert und Biermann-Ratjen berücksichtigen auf diesem Hintergrund in ihrem Beitrag das Gebet einer älter werdenden Nonne aus dem 17. Jahrhundert.

In Hinblick auf den Versorgungsbedarf und die reale Versorgung psychischer Störungen bei alten Menschen spielen Hausärzte und Hausärztinnen eine herausragende Rolle. Diese diagnostizieren zwar zumindest einen Teil der psychischen Störungen ihrer alten Patienten, aber das führt dennoch bei alten Patienten fast nie zu einer Psychotherapieempfehlung.

Theoretisch steht alten Menschen ebenso wie jüngeren das gesamte kassenfinanzierte Therapieangebot zur Verfügung wie Einzel- und Gruppentherapie im ambulanten oder stationären Setting. Paar- und Familientherapie dagegen ist keine Kassenleistung und in der Regel nur für Selbstzahler „erhältlich”.

Psychotherapie mit alten Patienten ist nachweislich wirksam. Die meisten Studien existieren zur Verhaltenstherapie, es wurden jedoch bisher keine Schulenunterschiede bezüglich der Wirksamkeit gefunden.

Wenn überhaupt Psychotherapie im Alter stattfindet, dann mit „jungen Alten” oder sehr „fitten” Älteren, die - das belegen auch entwicklungspsychologische und gerontologische Längsschnittstudien - meistens noch viele Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten haben. Mit Überschreiten des 80. Lebensjahres treten Abbauprozesse deutlicher hervor und führen zu sichtbaren Einschränkungen, die nicht mehr alle zu kompensieren sind.

Offen bleibt, was geeignete Hilfen für hochbetagte Menschen sind, bei denen sich z. B. eine demenzielle Entwicklung mit Depressionen überlagert. Klar ist nur, dass keine Bevölkerungsgruppe in den nächsten Jahren so dramatisch anwachsen wird wie die Gruppe der Über-80-Jährigen, der Pflegeabhängigen, der Dementen und der in 1-Personen-Haushalten lebenden alten Menschen mit nicht vorhandenen oder entfernt lebenden Kindern. Wir sind der Meinung, dass die Gesellschaft dafür bisher kaum gerüstet ist.

Kritisch bleibt nur anzumerken, dass uns die normativen Standards, die in manchen Beiträgen durchblitzten, nicht angemessen erscheinen wie z. B.:

Ältere Menschen sollen ihr Alter nicht verleugnen. Sie sollen ihre Angst vor dem Älterwerden nicht „plombieren”, indem sie sich z. B. einreden, Sex nicht mehr zu brauchen, und sich stattdessen mit Kultur und Sozialem beschäftigen. Alternde Männer sollen nicht versuchen junge Frauen zu erobern.

Unabhängig von unseren privaten Einstellungen zu diesen Fragen (die vielleicht auch differieren) steht es uns aus unserer Sicht als Therapeutin oder Therapeut nicht zu, zu beurteilen, wer für einen anderen Menschen der oder die richtige Partner/in ist, was die richtige Art ist, sich erotisch auszudrücken (sublimiert oder offensiv oder sonst wie) oder ob man sein Alter mehr oder weniger oder gar nicht verleugnet. So lange das (noch!) gelingt und man sich damit gut fühlt: Herzlichen Glückwunsch.

Ansonsten verweisen wir auf die Worte eines 85-jährigen Dichters:

„Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren,
würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten,
mehr Bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben;
nur aus Augenblicken;
vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an
bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt.
Und weiß, dass ich bald sterben werde.”
(Jorge Luis Borges, kurz vor seinem Tod)

Literatur

  • 1 Grobe T G, Dörning H, Schwartz F W. GEK-Report ambulant-ärztliche Versorgung 2007. Schwäbisch Gmünd; Gmünder Ersatzkasse 2007
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