PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(4): 410-411
DOI: 10.1055/s-2007-986264
Im Dialog

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„Es muss sich etwas ändern”

Kommentar zu Michael Broda „Der psychotherapeutische Hausarzt” (PiD Heft 2, 2007)
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Publication Date:
27 November 2007 (online)

Lieber Michael,

herzlichen Dank für Deinen Beitrag. Du greifst wieder unser gemeinsames Anliegen auf, zu dem wir schon so oft auch in der PiD Stellung bezogen haben: Es muss sich für die Patientinnen und Patienten in der psychotherapeutischen Versorgung etwas ändern, die schlicht keine Chance haben auf eine psychotherapeutische Behandlung. Ein Teil der Bedürftigen wird in unserem ambulanten Psychotherapiesystem, wenn auch oft mit sehr langen Wartezeiten, gut versorgt. Was ist aber mit den Patientinnen und Patienten, von denen Du sprichst: diejenigen mit geringer Krankheitseinsicht und zunächst fehlendem psychosomatischen Symptomverständnis? Wer nimmt die Patientinnen und Patienten mit schwerer körperlicher Erkrankung, mit Krebs oder nach einer Transplantation, oder die mit Migrationshintergrund? Diese Patientinnen und Patienten weisen oft sogar eine gute Behandlungsmotivation auf, werden jedoch aufgrund der Schwere und Komplexität des Krankheitsbildes und den damit verbundenen Problemen nur begrenzt in ambulante Psychotherapien genommen. Wo bekommen die jungen Menschen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung, die sich als Transsexualität herausstellt, rasch eine unkonventionelle psychotherapeutische Hilfe?

Alle diese Patientengruppen weisen in der Regel eine doppelte Bedürftigkeit in dem Sinne auf, dass sie durch ihre jahrelange Erkrankung und psychische Belastung deutliche Einbußen im sozialen Bereich erlitten haben, z. B. oft zusätzliche Arbeitsplatzprobleme haben, ihre partnerschaftliche Beziehung und andere familiäre und soziale Unterstützung verloren haben.

Du hast recht: Dafür ist die Richtlinienpsychotherapie nicht konstruiert. Leider handeln wir uns mit unserem Anliegen meist den Vorwurf ein, wir würden nur an der Richtlinienpsychotherapie rummäkeln oder wollten sie gar abschaffen. Natürlich ist die Richtlinienpsychotherapie für viele Patientinnen und Patienten sinnvoll, und daran soll auch grundsätzlich nicht gerührt werden, auch wenn Reformbedarf besteht, was ja nach nunmehr 40 Jahren (!) - 1967 wurden die ersten Psychotherapierichtlinien in Kraft gesetzt - normal ist.

Wir weisen doch lediglich darauf hin, dass die Richtlinienpsychotherapie offenbar für die von uns genannten Patientengruppen einfach ungeeignet ist. Das hat Alf Gerlach, damals Präsident der DGPT, in seinem kritischen Kommentar zu meinen Anregungen „Neue Konzepte integrierter psychotherapeutischer Versorgung: Fantasie oder Realität (PiD Heft 4, 2005) ja doch irgendwie bestätigt, wenn er schreibt:

Nicht nachvollziehbar ist die Auffassung des Autors, dass die psychotherapeutische Versorgung im Rahmen der Psychotherapierichtlinien ein Problem darstelle. Die Richtlinien sind ausdrücklich auf die ambulante Versorgung ausgerichtet und beinhalten aus guten Gründen weder die Möglichkeit zur Kombination verschiedener Behandlungsverfahren noch verschiedener Behandlungssettings. Dies hat entscheidend, zumindest in den psychodynamischen Verfahren, mit der im ambulanten Setting spezifischen Ausprägung der Übertragungskonstellation zu tun, in der die unterschiedlichen Übertragungsaspekte und die hiermit verknüpften Konflikte zeitlich nacheinander auftauchen und bearbeitet werden können (PiD Heft 1, 2006, S. 114).

Das wird ja nicht von uns bestritten - oder? Aber das gilt doch tatsächlich nur für einen Teil der Kranken, nicht jedoch für die Patientengruppen, für die Du den „psychotherapeutischen Hausarzt” forderst. Warum sollen diese Bedürftigen nicht auch von der Psychotherapie profitieren dürfen? Nur weil sie nicht in das vorgegebene Raster passen? Haben wir es schon mit einer „Klassenpsychotherapie” zu tun?

Wir bemühen uns in PiD schon lange um Lösungen und machen Vorschläge. Erinnerst Du Dich an unsere Diskussionsrunde in PiD (Heft 1, 2002), wo wir der „Psychotherapie auch Beine machen” wollten? Da kam leider wenig Reaktion. Heftig war die Reaktion allerdings auf unsere „Denkanstöße” (PiD Hefte 1, 3 u. 4, 2003).

Ich bin inzwischen der Auffassung, dass wir neben oder besser vor der Richtlinienpsychotherapie eine psychotherapeutische Primärversorgung brauchen mit unmittelbarer Zugänglichkeit für unsere Patienten und mit direkter pragmatischer psychotherapeutischer Versorgung. Die Richtlinienpsychotherapie kann dann sinnvollerweise der spezialisierten Psychotherapie vorbehalten bleiben.

Am Rande ist mir noch ein Problem aufgefallen, das die privat und über Beihilfe Versicherten betrifft, also i. d. R. die Lehrerberufe. In diesem Heft ist der Fall einer Lehrerin mit PTSD infolge einer Traumatisierung in der Schule („sozialer Brennpunkt”) dargestellt. Mit solchen Problemen sind wir in unserer Ambulanz zunehmend häufig konfrontiert und wir können den Betroffenen, die ja in der Regel sonst gesund sind, meist sehr gut helfen. Was das Problem ist? Nach fünf probatorischen Sitzungen ist Schluss, oder man stellt einen Antrag wegen der höchstens weiteren drei bis fünf Sitzungen, die man noch braucht, wo es doch um eine akute Versorgung geht, die man nicht unterbrechen kann. Nicht selten wird der Antrag dann abgelehnt, weil man keine richtige Psychotherapie mache im Sinne der Richtlinien, oder es werden die Sitzungen, die vor der Bewilligung stattgefunden haben, nicht erstattet. Also, hier sind mal die privat Versicherten schlechter dran.

Lieber Michael, noch einmal Dank für Deinen Beitrag, wir machen weiter so,

Dein Wolfgang Senf

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