Balint Journal 2007; 8(4): 129-130
DOI: 10.1055/s-2007-981399
Tagungsbericht

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Michael Balint meets Dr. Souza Martins - Gedanken nach dem 15. Internationalen Balint Kongress, Lissabon, 1.-5.9.2007

Michael Balint meets Dr. Souza Martins - Reflections on the 15th International Balint Congress, Lisbon, 1.-5.9.2007P. Portwich1
  • 1Schosshaldenstrasse 40, CH-3006 Bern
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Publication Date:
04 January 2008 (online)

Sein Name befand sich nicht auf der Liste der über 150 Personen, die aus 16 europäischen Ländern, aus Israel, USA und Australien nach Lissabon gekommen waren und an dem 15. Internationalen Balint Kongress teilnahmen, der vom 1.9. bis 5.9.2007 stattfand und von der Portugiesischen Balint Gesellschaft in Verbindung mit der Internationalen Balint Vereinigung (IBF) organisiert war. Dennoch war er präsent: Dr. Souza Martins. Auf dem Weg zu dem Veranstaltungsort passierten die Kongressteilnehmer jeden Tag sein vor dem Hauptgebäude der Fakultät errichtetes Denkmal, das besonders auffiel: Es war umgeben von einem kniehohen Wall von Blumen und steinernen Tafeln, in die Dankesbotschaften von Patienten, ihren Angehörigen und Familien eingraviert waren. Im Verlauf des Kongress lernten die Zuhörer dann durch einen kleinen Vortrag Souza Martins kennen und erfuhren, dass dieser Lissaboner Arzt von 1843 bis 1897 lebte und nicht nur als bedeutender Mediziner, sondern auch als Sozialreformer und Philanthrop in die Geschichte eingegangen ist. Noch über hundert Jahre nach seinem Tod wird er heute mit dem Andenken der Bevölkerung und dem Respekt der Ärzteschaft wegen seiner besonderen Aufopferung und Hilfsbereitschaft für Patienten und Arme, seiner Hinwendung und seinem fachlichen Können verehrt.

Dass sich Ärzte in unserem heutigen Gesundheitssystem mit anderen Realitäten und mit anderen Anforderungen an ihr Handeln konfrontiert sehen, dass die Medizin als Wissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts ganz andere Prioritäten setzt als zu Zeiten von Souza Martins, verdeutlichte das brisante Thema des Kongresses „Medicine, Evidence and Emotions. 50 years on…”, das zum einen die beiden oft als einander widersprechenden ärztlichen Handlungsmotive nennt und zum anderen mit dem Nachsatz auch darauf hinweist, dass das Jahr 2007 als „Geburtstag” einen aktuellen Anlass bietet: Vor 50 Jahren erschien erstmals Michael Balints Buch „The doctor, his patient und the illness”, das als Standardwerk der patientenzentrierten Medizin seinen Platz in dem literarischen Kanon medizinischer Klassiker gefunden hat und mit mehreren Neuauflagen und vor allem Übersetzungen in zahlreiche Sprachen weltweite Verbreitung erlangt hat. Als grundlegende Einführung vermittelt es noch heute jedem Interessierten die Haltung, auf der die praktische Balintgruppenarbeit aufbaut.

Dieses 50-jährige Jubiläum bot nun den Anlass zu einer Standortbestimmung im Sinne der Frage: Wo steht die Balintmethode in dem Kontext einer evidenzbasierten Medizin? Welchen Platz hat die patientenzentrierte Beziehungsmedizin in einer medizinischen Landschaft, in der es gelegentlich den Anschein hat, als gehöre Skepsis oder gar Ablehnung gegenüber einem Verfahren, das Emotionen, Subjektivität und Individualität fokussiert und ernst nimmt, zum guten ärztlichen Ton.

Das für den Kongress gewählte Thema wurde offensichtlich als anregende Herausforderung empfunden, sodass während fünf Tagen intensiv gearbeitet wurde, und zwar in einem weiteren Sinne nach Michael Balints Motto „training cum research”, demzufolge die wissenschaftlich-theoretische Bearbeitung von Fragestellungen immer die Praxisanwendung der Methode begleitet.

In einer Reihe von Plenumsvorträgen wurden Ergebnisse von Balint-„research” vorgestellt und diskutiert, die in jeder Hinsicht ein buntes Spektrum abdeckten. Dass sie ebenso aus dem universitären, aus dem klinischen wie praktischen Kontext stammten, verdeutlichte die Breite der Anwendungsfelder der Balintmethode. Und dass es sich nicht nur um quantifizierend-empirische Arbeiten, sondern auch um qualitative Forschung und hermeneutische Ansätze handelte, kann als beispielhaft gelten für die Offenheit, die Freiheit und die Möglichkeiten des heuristischen Zugangsweges der Forschung im Umfeld von Balint. Thematisch standen die Evaluation von Balintgruppenarbeit, die Anwendung der Technik und ihre unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten im Vordergrund, es wurden aber auch theoretische und gesundheitspolitische Überlegungen angestellt.

Und daneben gab es eben ganz selbstverständlich auch das „Training”, nämlich die praktische Balintgruppenarbeit. Alle Kongressteilnehmer waren von den Organisatoren in Gruppen eingeteilt und haben hier während der Tage in Lissabon parallel zu dem wissenschaftlichen Programm Beziehungsgeschichten nach der Balintmethode bearbeitet. Damit sind die internationalen Balintkongresse wohl die einzigen Kongresse medizinischer Fachgesellschaften, bei denen auch der Patient selbst zu Wort kommt, und zwar so, wie er sich seinem Arzt präsentiert, mit seinen Äußerungen, seinen Beschwerden und Nöten, seinen Stärken und Wünschen und mit einem großen Gefäß von Emotionen; eben als Mensch und nicht primär mit seiner Diagnose.

In dieser Doppelgestalt hatte der Balintkongress mit seinem Programm eigentlich selbst schon die Antwort auf die Frage nach der Standortbestimmung gegeben, die implizit in dem Kongressthema zu lesen gewesen ist: Denn ärztliches Handeln braucht immer beides, sowohl „Evidenz”, also den Bezug zu den wissenschaftlichen Standards, wie auch „Emotionen”, das heißt die Berücksichtigung der individuellen und subjektiven Aspekte. Letztere können aber nicht gemessen oder bildgebend sichtbar gemacht werden, sondern werden in der zwischenmenschlichen, persönlichen Begegnung von Arzt und Patient phänomenologisch erkennbar. Die Balintgruppenarbeit ist hierfür das gut evaluierte, kalibrierte und etablierte, aber eben auch das einzige verfügbare diagnostische Erfassungsinstrument.

Mit der Einführung der Methode der patientenzentrierten Medizin im 20. Jahrhundert hatte Michael Balint aber eigentlich nur etwas wieder in die Medizin eingeführt, was erst mit der Ära der in vieler Hinsicht so erfolgreichen naturwissenschaftlichen Medizin im Verlauf des 19. Jahrhunderts verloren gegangen war. Noch zu Zeiten von Dr. Souza Martins, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, war der ärztliche Blick auf den Patienten als Menschen nicht oder nur kaum durch reduzierende, abstrakte Diagnostik verstellt und der Arzt war wesentlich auf die Erkenntnisse angewiesen, die er in dem zwischenmenschlichen Kontakt mit dem Kranken wahrnehmen konnte.

Souza Martins war ein offensichtlich in dieser Hinsicht besonders begabter Arzt, der trotz der noch sehr geringen Behandlungshandhabe, die der Medizin damals zur Verfügung stand, die Wünsche und Bedürfnisse seiner Patienten nicht nur erkennen, sondern ihnen auch begegnen konnte. Mit seiner Anwesenheit an dem 15. Internationalen Balint Kongress 2007 konnte er als Zeuge der Medizingeschichte die Teilnehmer daran erinnern, dass in der Medizin als sich schnell wandelndem Fach vieles flüchtig ist, dass aber die Fähigkeit zur Begegnung mit dem kranken Menschen für Ärzte immer die maßgebliche und überdauernde Aufgabe bleiben wird.

Ergänzend ist aus Lissabon zu berichten, dass sich mit dem Zeitpunkt dieses Kongresses auch ein Wechsel in dem Vorstand der Internationalen Balint Vereinigung (IBF) verband: Nach sechs Jahren wurden Heide Otten (Deutschland) mit viel Dank und Anerkennung für ihr Engagement als Präsidentin und Marie Anne Puel (Frankreich) als Vizepräsidentin aus ihren Ämtern verabschiedet und Henry Jablonski (Schweden) als neuer Präsident mit dem Vizepräsidenten Donald Nease (USA) eingeführt. Ihnen obliegt gemeinsam mit Albert Veress (Rumänien) die Vorbereitung und Durchführung des 16. Internationalen Kongresses in Brazov (Rumänien), zu dem bereits herzlich eingeladen wurde.

Literatur

Dr. med. P. Portwich

Schosshaldenstrasse 40

CH-3006 Bern

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