Balint Journal 2007; 8(3): 105-106
DOI: 10.1055/s-2007-981389
Buchbesprechung

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die vernetzte Seele

Die intersubjektive Wende in der PsychoanalyseM. Altmeyer, H. Thomä (Hrsg.) 
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Publication Date:
26 October 2007 (online)

2006, Stuttgart: Klett-Cotta, 360 Seiten, 38,- €, ISBN-10: 3-608-94403-6

Intersubjektivität meint, „auf eine knappe Formel gebracht”, so Altmeyer und Thomä, dass sich „der Mensch von Geburt an mit anderen Menschen verbunden fühlt und dass sich diese Verbundenheit in seiner psychischen Struktur niederschlägt” (S. 5). Wagt man sich, nach erster Ortsbestimmung forsch zu fragen, in welchem Ausmaß, in welcher Art und Weise, zu welchen Zeitpunkten und mit welchen Konsequenzen - auch für die Therapie - sich diese Verbundenheit vollzieht, befindet man sich sofort im Zentrum aktueller Debatten.

Sich in die gegenwärtigen Auseinandersetzungen innerhalb der Psychoanalyse zu begeben erfordert sich sowohl mit den Ideen zur Rolle der Intersubjektivität in der Individualgenese als auch mit deren Berücksichtigung in der analytischen Behandlungssituation zu befassen. Die Positionen liegen - was die Gefahren und die Chancen, den Verfall oder die Neuordnung der Psychoanalyse anbelangen - extrem weit auseinander. Einerseits wird behauptet, z. B. im Beitrag von Altmeyer und Thomä, intersubjektives Denken bilde zukünftig den „common ground”, das gemeinsame Fundament aller - noch so divergierenden - analytischen Schulen. Andererseits wird eine „Verflachung” analytischen Denkens, letztlich sogar eine Aufhebung der biologischen Verankerung der Psychoanalyse und ihre Soziologisierung befürchtet, bei der die Betrachtung des Intrapsychischen - die bisherige Domäne der Psychoanalyse - auf der Strecke bleibt (vgl. z. B. Green in seinem Aufsatz). Andere wiederum sehen in der Vielfalt der Psychoanalyse keinen Grund zur Beunruhigung, begrüßen den durch die Vielfalt ermöglichten Wissenszuwachs (z. B. Ermann 1999).

Das Verdienst von Altmeyer und Thomä ist, nach der ersten, weitgehend auch Übersetzungen beinhaltenden Übersicht von 1999 (Psyche, Heft 9 / 10 von 1999), nun ein Buch herausgegeben zu haben, welches erneut den größeren Teil der führenden Vertreter in der Diskussion um die Intersubjektivität versammelt.

Fünf Beiträge sind eigens für das vorliegende Buch geschrieben, die restlichen acht erschienen im Original zwischen 2000 und 2005.

Im ersten Artikel des Buches geben Altmeyer und Thomä einen (groben) Überblick zum Einbezug intersubjektiver Ideen und ihrer Grundlagen innerhalb der wichtigsten psychoanalytischen Denktraditionen. Ogden stellt als Postkleinianer im zweiten Artikel vorrangig sein Verständnis von intersubjektiven Prozessen innerhalb der klinischen Arbeit dar, bei der er seine spontan auftretenden, eigenen, ihm zunächst nur seinem privaten Leben zugehörig erscheinenden Gedanken konsequent für das Verständnis der Übertragungs-Gegenübertragungsprozesse nutzt.

Es folgen vier Artikel US-amerikanischer Intersubjektivisten. Dabei sucht man als hiesiger Psychoanalytiker das Neue im intersubjektiven Betrachten therapeutischer Prozesse, das, was in „alten” Schulen fehlte. Für Benjamin ist es wichtig, „die Wechselseitigkeit in der Interaktion von Subjekten” (S. 67) zu betonen, und sich damit von der Idee, „der eine tut und dem anderen (wird) angetan” zu distanzieren. Beebe und Lachmann gehen in dieselbe Richtung, wenn sie „innere und Beziehungsvorgänge als gleichermaßen bedeutsam” (kursiv im Orig., S. 124) anerkennen. Orange, Stolorow und Atwood plädieren für die „fallibilistische Haltung”, man könne sich als Analytiker irren (vgl. S. 174).

Ich konnte mich beim Lesen des Eindrucks nicht erwehren, dass ich erstens Vertrautes, z. B. Sandler und seine „Übernahme von Rollenbereitschaften”, nur anders formuliert, wieder gefunden habe und zweitens, besonders in den Fallvignetten - außer bei Benjamin -, auf einen Verlust an Tiefe bzw. einen Verlust des Bearbeitens tiefer unbewußter Dimensionen stoße. Die Fallvignetten - so ist hinzuzufügen - betreffen stets strukturgestörte Patienten und sie werden fokussiert unter dem Gesichtspunkt der „Selbstenthüllung” betrachtet.

Aron und Harris gehen in ihrem Artikel auf Mitchell („Relational concepts in psychoanalysis”, 1988) ein. Cavell verweist in ihrem Beitrag auf die Dimension der Realität, die von Patient wie Analytiker trotz aller Wahrnehmungsverzerrungen stets, wenn auch unreflektiert, als gemeinsame Basis ihrer Arbeit anerkannt wird.

Bohleber sucht in seinem Beitrag zunächst in interessanter und prägnanter Weise die Vorgänger der „relationalen Wende der Psychoanalyse” und dann das Neue am intersubjektiven Ansatz, das möglicherweise, so seine Sicht, in dem steckt, was Stern den „präsentischen Augenblick” nannte. Nur: wie schon bei Schottlaenders (1952) Konzept der „echten Begegnung” bleibt die Notwendigkeit, den „präsentischen Augenblick” sprachlich genauer zu fassen.

Die Beiträge von Green und Laplanche setzen sich u. a. mit der Frage auseinander, ob der Triebbegriff weiterhin eine notwendige Kategorie im Theoriegebäude der Analyse ist. Beide beantworten diese Frage differenziert und in ihrer jeweils speziellen Interpretation wie Kreativität bejahend. Lesenswert!

Buchholz geht nachfolgend dem Intersubjektiven in Konversation, Erzählung und Metapher nach.

Honneth's und Whitebooks Aufsätze beinhalten - als die zwei letzten im Sammelband - eine philosophisch scharf geführte Diskussion. Sie fragen, ob „und wenn ja, in welcher Weise … eine vorsoziale Natur im Menschen anzunehmen (ist), … die als Quelle einer unausrottbaren ‘Negativität’ gelten kann, … die bar jeder gesellschaftlichen Beeinflussung für Unangepasstheit, Widerstand oder Revolte sorgt” (S. 316). Der Streit entzündet sich daran, ob eher die Frustration des Verschmelzungswunsches oder eher ein Omnipotenzerleben im Verschmelzungszustand des Säuglings die Quelle von Antisozialität bzw. der „Arbeit des Negativen” (Green) ist. Über den Weg der Bewertung von Befunden der Säuglingsforschung - schließlich in der gemeinsamen Überzeugung, der Säugling ist im Tagesverlauf in unterschiedlichem Maße „kompetent” - sind die Betonungen beider Autoren scheinbar minimal divergent. Honneth glaubt, die Antisozialität wird durch das Streben nach der nie erreichbaren, aber stets widerspenstig angestrebten Symbiose - unbewusst fortgesetzt im Erwachsenenalter - begründet, also durch die Frustration des Verlangens nach Beziehung / Intersubjektivität. Antisozialität ist somit ein Produkt der versagenden Umwelt und wendet sich gleichzeitig gegen sie. Whitebook betont dagegen die Bedeutung symbiotischer Zustände hinsichtlich der mit ihr verbundenen „Erfahrung der Grenzenlosigkeit und des Fehlens von Andersheit oder Alterität (otherness), … so verstandene Allmachtserfahrungen” (kursiv im Orig., S. 346). Antisozialität entsteht insofern aus der Nichtwahrnehmung der Anderen (der Umwelt). Damit hat das Intrapsychische ein stärkeres Gewicht.

Abschließend - auch das zeigt nochmals die Brisanz der im Sammelband behandelten Themen - skizziert Whitebook seine Überzeugung von der klinisch praktizierten Psychoanalyse als einer Forschungsmethode mit einem „privilegierten Zugang zur menschlichen Natur” (S. 350), und zwar sowohl gegenüber der Philosophie als auch der Säuglingsforschung. „So widerständig das Subjekt als Gegenstand der Philosophie auch für den sein mag, der sie praktiziert - subjektives klinisches Material begegnet dem Versuch, es zu verstehen, mit einer ganz anderen Dimension von Widerständigkeit. Die ‘Arbeit des Negativen’ erfährt der Psychoanalytiker in der täglichen Praxis in einer Weise, die dem Philosophen verwehrt bleibt” (S. 349). Und der Säuglingsforschung zugewandt argumentiert Whitebook: Das „(auf den Erwachsenen ausgedehnte) Bild vom realitätsorientierten Säugling, das uns die Forscher vermitteln, (unterschlägt) im Grunde die klinische Erfahrung der Psychoanalyse” (S. 350).

Summa summarum: mir wurde es beim Lesen der insgesamt 13 Beiträge nie langweilig. Mein Gewinn war in der Hauptsache, die eigene analytische Arbeit sicherer in die gegenwärtig diskutierten Standpunkte einordnen zu können. Ich vermute, der Sammelband von Altmeyer und Thomä lohnt sich für diejenigen, die neben einem Interesse für die Behandlungspraxis auch Freude an einer sortierenden und / oder auch Unruhe stiftenden Theorieauseinandersetzung haben.

Steffen Theilemann, Potsdam

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