Klinische Neurophysiologie 2007; 38 - P270
DOI: 10.1055/s-2007-976398

Vestibuläre Kontrolle von Willkürbewegungen – Systemanalyse und Modellbildung

N Lehnen 1, U Büttner 1, S Glasauer 1
  • 1München

Es ist weitbekannt, dass Informationen von den Gleichgewichtsorganen im Innenohr dafür genutzt werden, Auge, Kopf und Körper im Raum zu stabilisieren. Eine solche Stabilisierung erscheint während willkürlicher, selbst-initiierter Bewegungen widersinnig. Tatsächlich konnte gezeigt werden, dass vestibuläre Signale, die von Willkürbewegungen des Kopfes herrühren, in den vestibulären Kernen unterdrückt werden. Daher wird allgemein angenommen, das Gleichgewichtssystem habe für die Ausführung von Willkürbewegungen keine Bedeutung. Dazu passend unterscheiden sich auch Kopfbewegungen von Patienten ohne Gleichgewichtssinn nicht von denen Gesunder. Umgekehrt scheinen aber die vestibuläre Sensoren, die genaueste Informationen über die Kopfgeschwindigkeit liefern, wie geschaffen dafür zu sein, aktive Willkürbewegungen zu überwachen. Um diese bisher wenig beachtete Rolle des Gleichgewichtssystems bei der Bewegungskontrolle näher zu beleuchten, imitierten wir eine Situation, die auftritt, wenn Menschen Motorradhelme tragen oder Tiere Beute im Maul tragen. In diesen Fällen ist das Trägheitsmoment des Kopfes erhöht und die Bewegungskontrolle muss die veränderten Kopfeigenschaften kompensieren, die sonst ein Oszillieren (Schwingen) des Kopfes hervorrufen. Wir erhöhten also das Kopf-Trägheitsmoment von Patienten ohne Gleichgewichtssinn und verglichen ihre Kopfbewegungen mit denen Gesunder. Während der Kopf normalerweise weder bei Patienten noch bei Gesunden schwingt, bewirkte die Erhöhung des Trägheitsmoments ein ausgeprägtes Kopf-Oszillieren bei Patienten, aber nicht bei Gesunden. Vestibuläres Feedback spielt also tatsächlich eine bedeutende Rolle bei der Kontrolle von Willkürbewegungen des Kopfes. Diese Ergebnisse stimmen mit den Vorhersagen des Reafferenzprinzips, wie es von von Holst und Mittelstädt postuliert wurde, überein: nur vestibuläre Informationen, die von beabsichtigten Bewegungen herrührt, werden abgeschwächt; jede unerwartete Information wird jedoch benutzt um das Motorkommando so zu verändern, dass die Bewegung zurück auf die richtige Bahn kommt. In unserem Fall wird so bei Gesunden Kopf-Oszillieren verhindert. Allgemein verarbeitet also das Gleichgewichtssystem bevorzugt Unvorhergesehenes, was dann sowohl zur Stabilisierung als auch zur Motorkontrolle aktiver Willkürbewegungen benutzt wird.