Notfall & Hausarztmedizin 2007; 33(1): 13
DOI: 10.1055/s-2007-973418
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zeitbomben-Charakter der Demenzerkrankung: von der exotischen Erkrankung zum Massenphänomen

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Publication Date:
07 March 2007 (online)

„... Seit einem halben Jahr verändert. Eifersuchtsideen. Abnehmen des Gedächtnisses, öfters beim Zubereiten des Essens. Zweckloses Herumwirtschaften in der Wohnung. Furcht vor ganz bekannten Leuten. Versteckte alle möglichen Gegenstände, die sie dann nicht mehr finden konnte. Schien sich nicht mehr auszukennen. Bei der Aufnahme völlig ratloses Verhalten. Zeitlich und örtlich völlig desorientiert, außerordentlich widerstrebend (05.04.1904) … Vollkommen stuporös; liegt immer mit angezogenen Beinen im Bett; regelmäßig unrein mit Khot und Urin; spricht nie etwas. Brummt nur etwas vor sich hin, muss gefüttert werden. Gerät manchmal ohne ersichtliche Ursache in Erregung, bei der sie durch lautes Schreien und Brummen stört (12.07.1905)”

Welchem Hausarzt kommen nach fast genau 100 Jahren diese Aufzeichnungen Alois Alzheimers aus der Krankenakte der Auguste D. von der stationären Aufnahme bis zum Ableben der wohl bekanntesten „Alzheimer-Patientin” nicht wohlbekannt vor? Lassen Sie uns einen Zeitsprung von 100 Jahren wagen, wie die Versorgung Demenzerkrankter sich 2006/07 darstellt. Hat sich Grundlegendes verändert? Quantensprünge in Diagnostik und Therapie scheinen innerhalb dieser 100 Jahre stattgefunden zu haben, von der FDG-PET, SPECT oder zerebralen MRT-Bildgebung bis zur Entwicklung „moderner” Antidementiva vom Typ der Acetylcholinesterase-Inhibitoren oder NMDA-Antagonisten; lässt sich trotzdem grundsätzlich eine Veränderung der Krankheitsverläufe feststellen?

Epidemiologisch wissen wir um den Zeitbomben-Charakter der Demenzerkrankung: Bei einer geschätzten jährlichen Inzidenz von 2 % der über 65-Jährigen in Deutschland mit jährlichen Wachstumsraten von zirka 140000 Erkrankten bis hin zu 1920000 Erkrankten im Jahr 2040 sowie derzeitigen jährlichen Krankheitskosten von insgesamt etwa 35 Mrd. Euro scheinen neben den medizinischen Fachgesellschaften sowohl Bundes- als auch Landesregierungen die Tragweite dieser Erkrankung nachvollzogen zu haben.

Dem Hausarzt wurden erstmalig im EBM 2000plus das Screening-Instrument des hausärztlich-geriatrischen Basisassessments an die Hand gegeben, welches standardisiert nunmehr zur Frühdetektion und Verlaufsbeurteilung kognitiver Einschränkungen bis hin zur Demenz dienen sollte. Allerdings weisen die ersten KV-Abrechnungsstatistiken eine deutliche hausärztliche Zurückhaltung mit sogar tendenzieller Abnahme im Ansatz der entsprechenden Abrechnungsposition 03341 auf; nach wie vor findet eine 6,5-mal höhere Verordnungshäufigkeit „moderner” Antidementiva zugunsten der PKV versus GKV statt. Die Alzheimersche Demenz hat sich zu einem Massenphänomen entwickelt - die ökonomische Verantwortung dieser Epidemie hat die (Haus-)Ärzteschaft zu tragen!

In einer aktuellen Befragung von Hausärzten zum Thema „Versorgung von Demenzerkrankten” äußerten sich 85 % dahingehend, dass sie die Versorgung als unzureichend ansehen; davon 75 %, welche dies auf eine mangelhafte bis unzureichende budgetäre Situation zurückführten. 10 % der Befragten äußerten eine therapeutische Unsicherheit in puncto Demenztherapie; 5 % der Hausärzte bemängelten zusätzlich die unzureichende Kooperation aller Beteiligten, einschließlich der Defizite in der Angehörigenbetreuung.

Daher sollte die Versorgung Demenzerkrankter und der Angehörigen in den Fokus unserer hausärztlichen Bemühungen 2007 gerückt werden. Lassen wir uns nicht zwischen therapeutischem Nihilismus und ineffizienter zum Beispiel medikamentöser Polypragmasie aufreiben! Zur weiteren Wissensvermittlung und Darstellung des aktuellen Standes der medizinischen Forschung bietet sich interessierten Hausärzten der 1. interdisziplinäre Demenzfachkongress „Dementia Fair” vom 07. bis 08.02.2007 in Bremen an, welcher den derzeitigen Wissensstand aus den Bereichen Pflege, Medizin, Wissenschaft und Ethik aufzeigt. Hausärzte sollten aber auch auf diesem Kongress ihre Zwangssituation an alle Beteiligten in Gesundheitswesen und Politik kommunizieren, die durch einen Spagat zwischen Forderung nach (mehr) evidenzbasierter Frühdiagnose und Therapie und der real existierenden Welt des Budgetzwangs gekennzeichnet ist.

Weitere Informationen zum Kongress: www.dfc-online.eu

Dr. med. Martin Schencking

Remagen

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