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DOI: 10.1055/s-2007-970938
Gemeindepsychiatrie im 21. Jahrhundert
Community Psychiatry in the 21st CenturyPublication History
Publication Date:
20 August 2007 (online)

Prof. Dr. med. Dr. phil. Martin Hambrecht
Auch wenn an vielen Orten lokale „gemeindepsychiatrische” Initiativen engagierter Bürger, Landesherren oder Kirchen bis ins 18. und 19. Jahrhundert zurückweisen, formierte sich das Konzept der Gemeindepsychiatrie im deutschen Sprachraum erst in Verbindung mit der Psychiatrieenquete 1975. Insbesondere in den angelsächsischen Ländern hatte sich der Begriff „Community psychiatry” bereits 20 Jahre früher fest etabliert.
Community psychiatry bedeutete dabei „Psychiatry focusing on detection, prevention, early treatment, and rehabilitation of emotional and behavioral disorders as they develop in a community” [1]. Damit wird Community psychiatry durch ihre Inhalte definiert. Deutsche Definitionen stellten hingegen eher Strukturen in den Mittelpunkt und kennzeichneten beispielsweise noch 1999 „gemeindenahe Psychiatrie” als „seit 1964 praktizierte Organisationsform psychiatrischer Behandlung. Die Leistungen psychiatrischer Krankenhäuser, niedergelassener Ärzte, von Übergangseinrichtungen, Gesundheitsbehörden und Beratungsstellen werden organisatorisch zusammengefasst und systematisiert” [2]. Ein Vergleich der beiden Definitionen führt zur These, dass es der deutschen Psychiatrielandschaft an inhaltlichen Visionen mangelt und Organisationsfragen zu große Aufmerksamkeit geschenkt wird.
In der Psychiatrieeenquete von 1975 wurden zentrale Forderungen formuliert, die unter anderem durch mehr Gemeindepsychiatrie umgesetzt werden sollten: Gleichstellung psychisch mit körperlich Kranken; Gemeindenähe; Kontinuität in der Behandlungskette und Schaffung von Übergangseinrichtungen und Verkleinerung der Großkrankenhäuser, Schaffung kleinerer Behandlungseinheiten.
Obwohl die Gemeindepsychiatrie der letzten 30 Jahre nach besten Kräften für die Realisierung dieser Ziele arbeitete und dabei immer wieder sehr erfolgreich war, bleiben diese Forderungen der Enquete auch heute aktuell. Die Gleichstellung der psychisch mit den körperlich Kranken ist auf dem Papier vollzogen. Im Großen wie im Kleinen wird aber jeden Tag deutlich, dass hier für alle Beteiligten noch viel zu tun bleibt. Ein gravierendes Beispiel ist die Unterfinanzierung der ambulanten nervenärztlichen Versorgung. Kleine Beispiele erleben wir immer wieder, wenn z. B. psychisch Kranke ablehnend behandelt werden, wenn sie körperlich erkranken.
Die Gemeindenähe ist vor allem in den Flächenländern noch nicht vollständig realisiert [3]. Wo die alten Landeskrankenhäuser noch dominieren, gibt es auch heute Anfahrtswege von über 50 km. Gemeindenähe ist allerdings nicht nur in Kilometern zu messen. Isoliert und damit gemeindefern können psychisch Kranke, Sucht- oder Alterskranke auch in Gettos mitten in der Stadt leben, wenn sie keine Möglichkeit haben, am Gemeindeleben teilzuhaben. Kontinuität in der Behandlungskette bleibt eine ebenso schwierig zu realisierende Aufgabe angesichts der Zersplitterung der Kostenträgerlandschaft, der Aufspaltung von Budgets und der vielerorts unübersichtlichen Vielzahl von Diensten.
Auch wenn die Psychiatriereform hinsichtlich des Versorgungssystems nicht als abgeschlossen gelten kann [3], wurden die strukturellen Forderungen der Psychiatrieenquete noch am besten umgesetzt. Häuser sind leichter zu bauen als Herzen umzustimmen. Übergangseinrichtungen (Tageskliniken, betreute Wohn- und Arbeitsformen) wurden in den Ballungsgebieten geschaffen, fehlen aber in vielen ländlichen Regionen. Teilweise durch Umsetzung in psychiatrische Heime, teilweise aber auch durch Abtretung von Pflichtversorgungsgebieten an Abteilungspsychiatrien wurden die ehemaligen psychiatrischen Großkrankenhäuser deutlich verkleinert. Heute verfügen die 202 Fachkrankenhäuser für Psychiatrie und Psychotherapie im Mittel über 144 Betten. Die 220 Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern haben im Mittel 81 Betten. Insgesamt gibt es über 8000 Tagesklinikplätze, sodass knapp 20 % aller Klinikplätze in Tageskliniken vorgehalten werden.
Literatur
- 1 The American Heritage Stedman's Medical Dictionary, 2nd Edition. Boston; Houghton Mifflin Company 2004
- 2 Peters H U. Wörterbuch der Psychiatrie, Psychotherapie und medizinischen Psychologie. 3. Aufl. München; Urban & Schwarzenberg 1999
- 3 Bramesfeld A. Wie gemeindenah ist die psychiatrische Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland?. Psychiat Prax. 2003; 30 256-265
- 4 Peukert R, Goldbach H, Vorbach E-U. Der Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP) und die Hilfeplankonferenz (HPK). Psychiat Prax. 2006; 33 3-5
- 5 Winkler I, Richter-Werling M, Angermeyer M C. Strategien gegen die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen und ihre praktische Umsetzung am Beispiel des Irrsinnig Menschlich e. V. Gesundheitswesen. 2006; 68 708-713
- 6 Finzen A. Psychose und Stigma. Bonn; Psychiatrie-Verlag 2001
- 7 Eikelmann B, Richter D, Reker T, Brieger P. Pro und Kontra: Gemeindepsychiatrie in der Krise?. Psychiat Prax. 2005; 32 269-271
Prof. Dr. med. Dr. phil. Martin Hambrecht
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Evang. Krankenhaus Elisabethenstift gGmbH
Landgraf-Georg-Straße 100
64287 Darmstadt
Email: hambrecht.martin@eke-da.de