Pädiatrie up2date 2007; 2(3): 265-288
DOI: 10.1055/s-2007-966573
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Vesikoureteraler Reflux

Ein Phänomen mit vielen GesichternHannsjörg  Bachmann
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Publication Date:
31 July 2007 (online)

Einleitung

Ob der vesikoureterale Reflux (VUR) nur als harmlose Variante der Norm oder als schwere Erkrankung mit gravierenden Auswirkungen auf die Nierenfunktion in Erscheinung tritt, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab (Tab. [1]). Hierzu gehören vor allem Alter und Geschlecht des Patienten, die Morphologie und Funktion der Nieren sowie des gesamten Harntrakts bei Diagnosestellung und das Vorhandensein oder Fehlen von febrilen Harnwegsinfektionen. Dem VUR per se kommt fast nie krank machende Bedeutung zu; erst in der Kombination mit anderen Faktoren, insbesondere mit febrilen Harnwegsinfektionen und mit Blasenentleerungsstörungen, wird aus dem Risikofaktor VUR eine bedeutsame Krankheit (Kasuistik 1). Die Kenntnis des natürlichen Verlaufs dieser Faktoren - VUR, refluxassoziierter Nierenschaden, febrile Harnwegsinfektion, Blasenentleerungsstörungen - und der hier wirksamen pathophysiologischen Prozesse ermöglicht einen angemessenen Umgang in Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen mit einem VUR.

Tabelle 1 VUR ist nicht gleich VUR Wichtige modifizierende Faktoren des VUR Alter Geschlecht Nierenmorphologie und -funktion bei Diagnosestellung Morphologie und Funktion des oberen und unteren Harntrakts einschließlich VUR bei Diagnosestellung febrile Harnwegsinfektionen

Kasuistik 1 C. M., männlich

Erstdiagnostik im Alter von 8 Wochen (wegen „Hydronephrose” im präpartalen Ultraschall):

  • MCU (Miktionscystourethrogramm): dilatierender Grad-IV-Reflux beidseits (Abb. [1])

  • keine Stenose im Bereich der Urethra

  • beide Nieren sonographisch unauffällig

Verlauf: keine Krankheitssymptome, insbesondere keine febrile Harnwegsinfektion

Aktuelle Situation (der Patient ist inzwischen 17 Jahre alt): Beide Nieren sind in Form und Struktur normal.

Bewertung: Für diesen Jungen war der Grad-IV-Reflux beidseits nur ein Risikofaktor. Zu einer refluxbedingten Erkrankung ist es nicht gekommen.

Abb. 1 MCU mit Grad-IV-Reflux beidseits.

Risikofaktor VUR

Der VUR ist meist nur ein Risikofaktor; krank machend wird er in der Kombination mit febrilen Harnwegsinfektionen und mit Blasenentleerungsstörungen.

Ein vesikoureteraler Reflux ist bei Jungen aus den o. g. Gründen völlig anders zu bewerten und zu behandeln als bei Mädchen. Febrile Harnwegsinfektionen (Pyelonephritis) bei VUR-Patienten müssen in jedem Lebensalter möglichst ganz vermieden oder so früh wie möglich erkannt und behandelt werden. Jede Pyelonephritis hat das Potenzial, neuen Nierenparenchymschaden zu verursachen. Afebrile Harnwegsinfektionen sind dagegen auch bei VUR-Patienten als ungefährlich für das Nierengewebe einzustufen, solange sich hieraus keine Pyelonephritis entwickelt [1]. Großer Beachtung bedarf bei VUR-Patienten jede gleichzeitig bestehende Störung der Blasenentleerung, dies gilt für neurogene, mechanische und funktionelle Formen. Blasenentleerungsstörungen mit pathologisch erhöhtem intravesikalem Druck begünstigen nicht nur die Persistenz oder Zunahme eines VUR, durch die Restharnbildung wird zusätzlich die Neigung zum Auftreten von Harnwegsinfektionen gefördert.

Nicht nur die Prognose, sondern auch die Gestaltung von Diagnostik und Therapie hängen entscheidend davon ab, ob bei dem individuellen VUR-Patienten bei Diagnosestellung das Nierenparenchym normal ist oder ob schon eine Nierenparenchymschädigung uni- oder bilateral vorliegt. Zu unterscheiden ist zwischen der angeborenen (primären) Refluxnephropathie und der prinzipiell vermeidbaren erworbenen (sekundären), sich erst postpartal entwickelnden Form. Bei der angeborenen Refluxnephropathie handelt es sich um eine Nierendysplasie - eine assoziierte Fehlbildung im Bereich des Nierengewebes, die vor allem bei Jungen mit hochgradigem Reflux gehäuft zu finden ist - und bei der erworbenen Refluxnephropathie um den Ersatz von funktionierendem Nierengewebe durch funktionsloses Narbengewebe. Das zentrale therapeutische Ziel in der Betreuung von VUR-Patienten besteht darin, neuen Nierenparenchymschaden so weit wie möglich zu vermeiden oder zu minimieren. Wir wissen heute, dass diese erworbene Nierenparenchymschädigung bevorzugt in den ersten Lebensjahren entsteht.

Merke: Das eigentliche Ziel in der Betreuung von VUR-Patienten ist die Vermeidung neuen Nierenparenchymschadens, nicht die Beseitigung des VUR. Diese neue Nierenschädigung entsteht bevorzugt in den ersten beiden Lebensjahren.

Literatur

Prof. Dr. med. Hannsjörg Bachmann

Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin
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