Krankenhaushygiene up2date 2006; 1(2): 89-90
DOI: 10.1055/s-2007-966139
Editorial

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Die „RKI-Richtlinie” und der ÖGD: Notizen aus der klinischen Praxis

Ines  Kappstein
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Publikationsdatum:
16. Januar 2007 (online)

1. „Die Erfahrung zeigt, dass Gerichte dazu neigen, der Richtlinie und ihren Anlagen den Charakter von Kunstregeln (d. h. allgemein anerkannten Standards) zuzuerkennen.” [1]

2. Die Empfehlungen der „Richtlinie” seien „zwar kein verbindliches Recht, (würden) jedoch den Stand des Wissens („State of the Art”) (darstellen) und in juristischem Sinne als vorweggenommenes Expertengutachten gewertet...” (die für die Krankenhaushygiene im Stadtgebiet von München zuständige Abteilung des Städtischen Gesundheitsamtes laut Schreiben vom 12.07.2005 an ein Münchner Universitätsklinikum).

Sind diese Aussagen zutreffend? Sehen Sie dazu auch den Beitrag von K. Ulsenheimer auf Seite 169. Nein, sie sind es erstaunlicherweise nicht, obwohl das erste Zitat im Bundesgesundheitsblatt nachzulesen ist, dem offiziellen Publikationsorgan verschiedener Bundesinstitute, u. a. des Robert Koch-Instituts (RKI), zwei der Autoren Mitarbeiter des Robert Koch-Instituts sind, und das zweite Zitat aus dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) einer Großstadt mit 60 Kliniken stammt. Von dem könnte man annehmen, dass gerade dessen Mitarbeiter korrekt informiert sind, weil ihre Arbeit wegen der Zuständigkeit für zahlreiche und auch Großkliniken eine besonders breite Wirkung hat.

Auf Nachfrage zu 1. beim RKI sowie beim Bundesgesundheitsministerium mit der Bitte um Nennung entsprechender Gerichtsurteile wurde nicht ein einziges Urteil angegeben, das diese Aussage stützen würde. Die Erkundigung zu 2. bei den Mitarbeitern des Münchner ÖGD ergab, dass der erste Teil ein Zitat aus dem Kommentar zum IfSG von Bales et al. [2] ist und die Information „in juristischem Sinne als vorweggenommenes Expertengutachten gewertet” aus den Fortbildungsreferaten eines bestimmten Juristen stammt. Dieser referiert im Übrigen sehr häufig bei Veranstaltungen für Pflegepersonal über Haftungsfragen; seine Aussagen finden deshalb bei Pflegepersonal weite Verbreitung, sind jedoch nicht durch juristische Fachliteratur gestützt.

Was ist also die so genannte „RKI-Richtlinie”?

1. Gemäß § 23 (2) IfSG ist sie keine Richtlinie des RKI, denn sie wird von der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) beim RKI erarbeitet, die laut amtlicher Begründung „unabhängig” ist und die „Fachexpertise” des RKI „ergänzen und unterstützen” soll.

→ Es bleibt die Frage, welche Art der Kooperation zwischen RKI und Kommission stattfindet, d. h. in welcher Art und in welchem Stadium sich das RKI in die Arbeit der Kommission einbringt, ob eher als begleitende Hilfe oder als führendes Element.

2. Sie hat, wie in [1] weiter ausgeführt wurde, „den Charakter einer Leitlinie, von der dann begründet abgewichen werden kann, wenn die konkrete Situation nach entsprechender systematischer Risikobewertung unter Berücksichtigung der Vorgaben der Richtlinie dies zulässt. Die Richtlinie ist demnach kein Gesetz, keine Verordnung und keine Verwaltungsvorschrift. Sie wirkt aufgrund ihrer fachlichen Überzeugungskraft.”

→ Dieser Überzeugungskraft traut man aber offensichtlich doch nicht so recht. Warum sonst verweist man auf Gerichtsurteile? Die aber sind (siehe oben) nicht einmal vorhanden.

3. Sie heißt demnach a) „Richtlinie” („historisch” bedingt seit Mitte der 1970er Jahre in der Übersetzung des englischen Begriffs „Guideline”), soll b) dem Charakter nach (siehe oben) eine „Leitlinie” sein (wobei offen gelassen wird, was sie als solche qualifiziert) und setzt sich c) aus einzelnen „Empfehlungen” (gemäß § 23, Abs. 2, IfSG) zu verschiedenen Themenbereichen zusammen.

→ Sie hat damit einen gewissermaßen polymorphen Charakter mit dem Resultat, dass sie je nach Auffassung des Betrachters ihre „Bestimmung” ändern kann, d. h. je nach Interessenlage interpretiert wird.

Die Darstellung der Bedeutung der „Richtlinie” durch das RKI selbst [1] führt dazu, dass einzelne Mitarbeiter des ÖGD die punktgenaue Umsetzung jeder Empfehlung fordern und sich dabei im Einklang mit dem RKI fühlen. Dadurch kann es sogar ausgewiesenen Fachleuten schwer gemacht werden, andere Wege zu gehen. Den „Stand des Wissens” [2] geben die Empfehlungen der „Richtlinie” allerdings nicht immer wieder, was nicht etwa nur für die alte „Richtlinie” gilt. So wurde bisher auch bei den neuen Empfehlungen der „Richtlinie” sehr häufig die (zweithöchste) Evidenz-Kategorie I B verwendet, die dem Leser nahe legt, dass die Empfehlung fundiert ist. Tatsächlich aber müssen für die Einordnung einer Empfehlung in die Kategorie I B noch nicht einmal Ergebnisse aus wissenschaftlichen Studien vorliegen; vielmehr genügen hierfür „gut begründete Hinweise für deren Wirksamkeit” [1]. Von manchen Mitarbeitern des ÖGD wird die Festlegung der Kategorie I B nun aber so interpretiert, dass sie die Umsetzung dieser Empfehlungen in den Kliniken fordern müssen, da sie keinen Spielraum hätten. Solange das RKI Äußerungen wie in 1. publiziert, werden diese Mitarbeiter des ÖGD an ihrer Interpretation festhalten.

Bei solch strikter Zugrundelegung der Empfehlungen der „Richtlinie” durch einen lokal zuständigen ÖGD entsteht das Klima eines „Hygienepolizeistaats im Staate” mit der absurden Folge, dass Mitarbeiter des ÖGD ohne eigene Berufserfahrung in der Krankenhaushygiene mit Verweis auf die Empfehlungen der „Richtlinie” in den Einrichtungen ihres Einzugsgebietes davon abweichende Auffassungen qualifizierter Krankenhaushygieniker nicht tolerieren und „Defizite” konstatieren. Die dadurch unvermeidlichen Auseinandersetzungen zwischen Kliniken und ÖGD binden auf beiden Seiten sehr viel Potenzial. Fachliche Kompetenz entsteht aber nicht durch Wiedergabe der Empfehlungen der „Richtlinie” und wird auch nicht mit einer Position im ÖGD erworben. Dies wird auch von vielen Mitarbeitern im ÖGD nicht infrage gestellt. Ein kleiner Teil jedoch vertritt eine fundamentalistische „Hygiene” - und kann sich darin gemäß 1. auch noch auf das RKI berufen. Weil nicht alle Mitarbeiter des ÖGD diese Sichtweise teilen, kann in den verschiedenen ÖGD-Distrikten eines Bundeslandes die Überwachung von Kliniken und anderen Einrichtungen vollkommen unterschiedlich sein.

Die Empfehlungen der KRINKO könnten ein geeigneter Leitfaden für das medizinische Personal in Klinik und Praxis und für die Mitarbeiter des ÖGD sein, aber nicht mehr. Denn auch eine optimale Leitlinie, was unter anderem eine Leitlinie bedeutet, die in kurzen Intervallen überarbeitet wird - bei den Empfehlungen der KRINKO nicht der Fall - kann nie alle erdenklichen Fragen der klinischen Praxis behandeln und kann deshalb eigene Sachkenntnis unter keinen Umständen ersetzen. Ein „Kochbuch” für krankenhaushygienische Laien kann weder die „Richtlinie” noch eine Leitlinie sein, die diesen Namen nach heutigen Maßstäben verdient.

Es wäre äußerst wünschenswert, wenn das RKI die Entwürfe der von der KRINKO neu erarbeiteten Empfehlungen - wie dies z. B. in den USA üblich ist - via Internet der fachlich interessierten Öffentlichkeit zur Diskussion stellen würde und nicht nur den Landesgesundheitsämtern der 16 Bundesländer (wegen der föderalen Struktur Deutschlands und der daraus resultierenden Unabhängigkeit der Länder in Sachen Infektionsprävention). Eine öffentliche Diskussion der Empfehlungen im Vorfeld würde die Transparenz des Verfahrens erhöhen. Außerdem wäre es erforderlich, dass die Texte der „Richtlinie” sprachlich einen wissenschaftlichen Charakter bekommen. Damit müssten Formulierungen, wie sie in gesetzlichen Vorschriften üblich sind („ist zu”, „hat zu”), entfallen. Dahinter steht die Gepflogenheit der alten „Richtlinie”, die noch keine Kategorisierung kannte und über die Art der Formulierungen die Dringlichkeit der Umsetzung einer empfohlenen Maßnahme zum Ausdruck bringen wollte. Für die neue „Richtlinie” ist diese Sprache unpassend. Eine andere sprachliche Form der Empfehlungen der „Richtlinie” würde auch der Assoziation von „Hygiene-Vorschriften”, die es ja de facto gar nicht gibt, entgegenwirken.

Literatur

  • 1 Exner M, Peters G, Engelhart S, Mielke M, Nassauer A. 1974 - 2004 : 30 Jahre Kommission für Krankenhaushygiene.  Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2004;  47 313-322
  • 2 Bales S, Baumann H G, Schnitzler N. Infektionsschutzgesetz - Kommentar und Vorschriftensammlung. Stuttgart; W. Kohlhammer 2003
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