Zahnmedizin up2date 2007; 1(1): 41-60
DOI: 10.1055/s-2007-965364
Prothetik

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zahnverlust - Zahnersatz

Michael Walter
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Publication Date:
24 August 2007 (online)

Epidemiologie

Zahnverlust als Folgeerscheinung der großen Volkskrankheiten Karies und Parodontitis wird die zahnärztliche Versorgung auch zukünftig wesentlich prägen.

Im November 2006 wurde die Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV, Untersuchungsjahr 2005) vorgelegt [[1]]. Diese bevölkerungsrepräsentative Studie liefert aus der Sicht der Gesundheitsberichterstattung und der zahnärztlichen Prothetik außerordentlich wertvolle Ergebnisse. Epidemiologische Daten geben Auskunft über den Gesundheitszustand und die Prävalenzen von Krankheiten in einer Population. Daher erscheinen sie bei oberflächlicher Betrachtung für den praktizierenden Zahnarzt zunächst nicht von erstrangiger Bedeutung, befasst er sich doch mit der Betreuung von individuellen Patienten, auf die populationsbezogene Ergebnisse nicht ohne Weiteres übertragen werden können. Trotzdem können gerade aus der DMS IV auch für den Praktiker wichtige Schlussfolgerungen gezogen werden. Betrachten wir dazu die Seniorenaltersgruppe von 65 bis 74 Jahren, die für die Prothetik besonders bedeutsam erscheint, etwas näher. Im Vergleich zur DMS III (1997) wurden in dieser Altersgruppe durchschnittlich 3,5 Zähne mehr gefunden. In den meisten Kommentaren wird darin eine seit langem vermutete Verschiebung des Zahnverlustes in ein höheres Lebensalter gesehen. Die hohe Zahl von nicht-kariösen Zahnhartsubstanzdefekten mit einer Häufigkeit von 29 % und die zunehmende Prävalenz der Wurzelkaries von jetzt 45 % verdeutlichen spezielle Probleme der Alterszahnmedizin und werden einen Einfluss auf unsere zukünftigen Therapieformen nehmen.

Merke: Es kann von einer deutlichen Zunahme schwierig zu behandelnder Zahnhartsubstanzdefekte in Form von nicht-kariösen Defekten und Wurzelkaries ausgegangen werden.

Bei den Therapiemitteln ergab sich in der DMS IV gegenüber 1997 bzgl. der Leitversorgungen eine Zunahme des festsitzenden Zahnersatzes (Kronen und Brücken), eine Abnahme von Totalprothesen und eine Zunahme von Implantaten auf allerdings geringem Niveau mit einer personenbezogenen Prävalenz von 2,6 %. Eine besondere Beachtung verdient auch die Parodontalgesundheit. Hier zeigte sich eine starke Erhöhung der Häufigkeit schwerer Parodontalerkrankungen mit Taschen ≥ 6 mm auf fast 40 %. In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist, dass fast die Hälfte der betroffenen Personen angab, bereits einmal im Leben eine Parodontitisbehandlung erhalten zu haben. Auch wenn die Interpretationsmöglichkeiten sehr vielfältig sind, so müssen diese Zahlen doch Fragen nach der Effizienz der vorherrschenden Präventions- und Therapiekonzepte zur Parodontitis auf der Populationsebene aufwerfen.

Ursachen für die erhöhte Zahnzahl bei Senioren

Eine Reihe von Ursachen können für die in der DMS IV 2005 gegenüber 1997 (DMS III) gemessene erhöhte Zahnzahl bei Senioren verantwortlich sein. Unter anderem werden durchschlagende Erfolge der Prävention, gute zahnärztliche Betreuung, aber auch Unterschiede in der Vita der Senioren (Kohorteneffekte) genannt. Für die gefundene Verschlechterung der Parodontalgesundheit können ebenfalls verschiedene mögliche Gründe angeführt werden. Darunter befinden sich eine höhere Anzahl nun unter Risiko stehender Zähne, ein Wandel im Extraktionsverhalten und eine tatsächliche Veränderung des Erkrankungsmusters oder der Behandlung. Echte Kausalitäten können auf der Grundlage von Querschnittsstudien wie den Deutschen Mundgesundheitsstudien nicht festgestellt werden.

In diesem Zusammenhang drängt sich auch die Frage nach der richtigen Therapiestrategie in Bezug auf Zahnerhaltung und Zahnersatz auf, sowohl auf der Populations- als auch auf der individuellen Patientenebene. Die Versorgung mit Zahnersatz steht fast immer am Ende einer komplexen oralen Rehabilitation. Da prothetische Behandlungen häufig auch mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden sind, kommt dem restaurativ tätigen Zahnarzt eine besondere Verantwortung für die Langzeitbetreuungsstrategie eines Patienten zu.

Merke: Die Kompetenz in der Langzeitplanung unter Berücksichtigung der Prognose von Einzelzähnen und Gesamtgebiss sowie möglicher Folgeversorgungen wird in Zukunft noch mehr als bisher gefragt sein.

Die aus der DMS IV ableitbaren Polarisierungstendenzen bzgl. der Krankheitslast bei Karies, Parodontitis und Zahnverlust zeigen darüber hinaus, wie individuell diese Entscheidungen zu treffen sein werden. Neben den epidemiologischen Veränderungen und dem medizinischen Fortschritt wird der demografische Wandel einen erheblichen Einfluss auf die erforderliche Versorgung mit Zahnersatz nehmen.

Überalterung der Bevölkerung und höhere Zahnzahlen bei Senioren werden einen größeren Anteil hoch komplexer Versorgungen nach sich ziehen. Durch Polarisierungstendenzen bei der Krankheitslast und sich verstärkende soziale Unterschiede wird neben der Hi-Tech-Behandlung auch die einfache Basisversorgung mit Zahnersatz weiter gefragt sein.

Zahnersatzplanung gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben im Praxisalltag (Abb. [1]). Diese Schwierigkeit leitet sich neben der häufig per se hohen Komplexität der klinischen Situation aus einer außerordentlich großen Vielfalt der Therapiemittel ab, verbunden mit einer eher lückenhaften Wissensbasis und geringer Verfügbarkeit hochrangiger Evidenz. Auf der Habenseite kann die Prothetik den Vorteil verbuchen, auf einige bestens langzeitdokumentierte Therapiemittel mit hohen Überlebenszeiten verweisen zu können. Auf diese bewährten sog. Standardbehandlungsmittel sollte immer dann zurückgegriffen werden, wenn Vorhersagbarkeit und Nachhaltigkeit einer prothetischen Therapie im Mittelpunkt stehen. Daneben steht eine große Bandbreite modernster Materialien und Verfahren für die Maximalversorgung zur Verfügung.

Abb. 1 Typisches Seniorengebiss, wie es zukünftig noch häufiger zu sehen sein wird: relativ hoher Zahnbestand, Wurzelkaries, Abrasion, Veränderung der Bisslage, Defizite in der Mundhygiene. In dieser Situation ist eine hohe Kompetenz bei der Zahnersatzplanung erforderlich.

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Univ.-Prof. Dr. med. dent. Michael Walter

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