Notfallmedizin up2date 2007; 2(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2007-965034
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neonatale Reanimation: Von der Empirie zur Evidenz - und zurück in den Kreißsaal

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Publication Date:
13 November 2007 (online)

In der Notfallmedizin up2date werden regelmäßig Themen aus der pädiatrischen Notfallmedizin behandelt, die sich bekanntlich in einigen wesentlichen Charakteristika von der Erwachsenen-Notfallmedizin unterscheidet. Zu diesen Besonderheiten gehören - neben dem oft „globalen Kranksein“ mit entsprechend breiter Differenzialdiagnose (siehe z. B. „Akute Bewusstseinsstörungen im Kindesalter“ im Heft 2/2006) - auch die nach der Geburt auftretenden Störungen der perinatalen Adaptation, d. h. der komplexen Umstellungsprozesse am Übergang vom intra- zum extrauterinen Leben. In der vorliegenden Ausgabe wird von einer Gruppe ausgewiesener Experten die „Erstversorgung und Reanimation von Neugeborenen“ abgehandelt und damit die in Heft 1/2006 begonnene Wiedergabe der aktualisierten Leitlinien zum Pediatric Life Support gewissermaßen „nach unten“ erweitert.

Die Autoren konzentrieren sich in ihrer Darstellung auf die kritischen Punkte, die aufgrund aktueller Diskussionen in der Neonatologie eine Neubewertung erfahren haben. Die Vielzahl solcher Punkte lässt einmal mehr erkennen, in welchem Maße Empfehlungen, die empirisch für sinnvoll gehalten wurden, nach Überprüfung ihrer Evidenz durch kontrollierte Studien relativiert werden können. Zu den modifizierten Empfehlungen gehören etwa die Verzichtbarkeit des tiefen Absaugens bei vitalen Neugeborenen mit grünem Fruchtwasser, ein zurückhaltenderer Umgang mit Naloxon bei einem Opiatüberhang, eine klare Dosisempfehlung von 0,01 mg/kgKG für die vorzugsweise intravenöse Gabe von Adrenalin und die verstärkte Beachtung eines normwertigen Blutzuckerspiegels nach Reanimation. Einen besonderen Schwerpunkt der neonatologischen Diskussion bilden zudem die Aspekte Sauerstoff und Temperatur.

Obwohl aus früheren Zeiten bereits bekannt war, dass ein überhöhtes Sauerstoffangebot bei Frühgeborenen zu schweren Augenschäden (retrolentale Fibroplasie) führt und seither in dieser Patientengruppe gemäßigte Sättigungen (meist um 90 %) angestrebt werden, stand doch die Sicherstellung einer adäquaten Oxygenierung durch Behandlung des Atemnotsyndroms über viele Jahre im Mittelpunkt der Neonatologie. Inzwischen wird darüber diskutiert, ob die vermeintlich normoxischen Werte nicht immer noch hyperoxisch sein könnten - was angesichts intrauteriner Sättigungen von 65 - 70 %, die aufgrund der Linksverschiebung der O2-Bindungskurve des fetalen Hämoglobins bereits bei pO2-Werten von 25 - 30 mmHg erreicht werden, nicht unplausibel erscheint. Als Prototyp einer sauerstoffinduzierten Erkrankung gilt nach wie vor die Frühgeborenen-Retinopathie (Retinopathy of Prematurity, ROP), bei der es aufgrund des Anstieges der Sauerstoffspannung nach der Geburt zunächst zu einem Wachstumsstillstand der versorgenden Blutgefäße und dann - nach Zunahme des Stoffwechselbedarfs - zu einer neuerlichen, nun aber irregulären Gefäßproliferation kommt. Die Skepsis gegenüber Sauerstoff erstreckt sich auch auf die neonatale Reanimation, wo Kritik an der vorrangig empfohlenen Sauerstoffvorlage vor allem aus Entwicklungsländern laut wurde, in denen der Sauerstoff nicht „aus der Wand kommt“. Tatsächlich haben entsprechende Studien zeigen können, dass die Wiederbelebung von Neugeborenen mit Raumluft dem Einsatz von reinem Sauerstoff zumindest gleichwertig ist. Darüber hinaus wird sogar vermutet, dass ein allzu großzügiges Sauerstoffangebot im postasphyktischen Zustand den nachlaufenden Reperfusionsschaden verstärken könnte. Ob sich ein solcher schädlicher Effekt bestätigen lassen wird, ist zurzeit allerdings noch ungewiss. Auch darf nicht übersehen werden, dass der ansteigende O2-Partialdruck einen physiologischen Trigger für manche Umstellungsprozesse in der Perinatalperiode (Absenkung des pulmonalen Gefäßwiderstandes, Verschluss des Ductus arteriosus Botalli, Aktivierung der Thermoregulation) darstellt, sodass eine generelle Beschränkung des Sauerstoffangebotes möglicherweise eine Reihe anderer Probleme nach sich ziehen könnte.

Bezüglich der Temperatur war bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts versucht worden, Neugeborene - in Analogie zu einem weitverbreiteten Schutzmechanismus im Tierreich - zwecks Erhöhung ihrer Hypoxietoleranz auskühlen zu lassen. Jedoch hatte sich dieser Versuch als Irrweg erwiesen, weil einerseits bei reifen Neugeborenen durch die Thermogenese im braunen Fettgewebe der O2-Verbrauch so stark zunimmt, dass ein Missverhältnis zwischen Bedarf und Angebot geradezu provoziert wird, und weil andererseits bei Frühgeborenen durch deren „wehrlose“ Abkühlung zwar in der Tat ein Schutz vor Hypoxie erzielt werden kann, aber durch Gerinnungsstörungen und Kreislaufinstabilitäten während der Wiedererwärmung auch das Hirnblutungsrisiko gesteigert wird. Nachdem seither jeder Gedanke an eine therapeutische Hypothermie bei Früh- und Neugeborenen strikt verworfen worden war, ist eben diese zurzeit wieder Gegenstand großer Studien in der Neonatologie. Maßgeblich hierfür waren tierexperimentelle Befunde, denen zufolge die schon erwähnten Reperfusionsschäden durch eine Temperatursenkung, auch wenn sie erst nach einer perinatalen Asphyxie einsetzt, wirksam eingedämmt werden können. Hier besteht eine Analogie zur therapeutischen Hypothermie nach Herzstillstand bei Erwachsenen, wobei allerdings im Hinblick auf Neugeborene nicht vergessen werden darf, dass eine ernsthafte Asphyxie erst nach Ausschöpfung weitreichender endogener Schutzmechanismen eintritt und daher einer rechtzeitig intervenierenden Geburtshilfe die absolute Priorität vor einer nachträglich schadensbegrenzenden Neonatologie zukommt. Auch ist zu Recht hinterfragt worden, ob allein die Ablösung eines gewissen „therapeutischen Nihilismus“ durch ein klares Behandlungskonzept nicht ebenso zu den ermutigenden Ergebnissen der postasphyktischen Hypothermiebehandlung beigetragen haben könnte wie die Abkühlung selbst.

Wie also sind die neuen evidenzbasierten Erkenntnisse beim täglichen Einsatz im Kreißsaal bzw. im Neugeborenen-Notarztdienst anzuwenden? Die Autoren sind in diesem Punkt ebenso klar wie die Leitlinien: Sauerstoff sollte als Medikament betrachtet und wohldosiert sowie unter ständigem Monitoring der O2-Sättigung verabreicht werden. Die Körpertemperatur sollte im Normbereich gehalten, d. h. sowohl eine unbeabsichtigte Auskühlung als auch eine iatrogene Hyperthermie vermieden werden, eine postasphyktische Hypothermiebehandlung hingegen kontrollierten Studien vorbehalten bleiben. Die aktuellen Reanimationsempfehlungen sind in diesem Sinne durch einen gewachsenen Reflexionsgrad gekennzeichnet, der das, was zu tun ist, an der individuellen Situation und den möglichen pathophysiologischen - und juristischen! - Folgen ausrichtet. Immerhin gebietet die Relativierung von Vielem, was früher als unzweifelhaft galt, auch eine gewisse Skepsis gegenüber neuen „Wahrheiten“. All' das, was heute von hochmotivierten Studiengruppen an ausgesuchten Kollektiven erhoben wird, wird sich über die Jahre in der Fläche bewähren müssen.

Prof. Dr. med. Dominique Singer, Hamburg

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