PPH 2007; 13(5): 243
DOI: 10.1055/s-2007-963596
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein „unseliger” Einzelfall?

H. Schädle-Deininger
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Publication Date:
25 October 2007 (online)

So ist der Artikel im Spiegel 22 / 2007 überschrieben, der über die Verhandlung einer Krankenschwester der Charité am Berliner Landgericht berichtet. Es werden Fragen aufgeworfen, warum die Klinik nicht sofort reagiert hat oder warum Signale nicht angesprochen und über Ungereimtheiten mehr kommuniziert wurde, hat man weggehört und weggeschaut? Festgestellt wird, dass die Station mit zehn Betten überschaubar war, da bekam jeder mit, was die Kollegen taten. „Die meisten Mitarbeiter dürften gewusst haben, dass Schwester Irene eigenmächtig versuchte, Reanimationen zu verhindern, wenn sie ihrer Meinung nach keinen Sinn machten. Schon 2005 gab es zweifelhafte Bemerkungen von ihr. Fand man es vielleicht so falsch nicht, dass diese erfahrene Schwester Patienten, denen ohnehin nicht mehr geholfen werden konnte ‚sanft hinübergleiten’ ließ, wie sie es nannte?”

Deutlich wird in dem Artikel, dass Mitarbeiter lange Zeit, auch bei nachweisbaren Verdachtsmomenten, zu lange geschwiegen haben oder auch von den Vorgesetzten nicht ernst genug genommen und nicht gehandelt wurde(n). Die Beobachtungen, die einen Verdacht hätten begründen können, wurden demzufolge nicht früh genug offen gelegt, um möglicherweise weitere Tötungen zu verhindern.

Die Kommunikationsstrukturen und Kultur der Informationsweitergabe werden in diesem Zusammenhang als mangelhaft bewertet und tragen im angesprochenen Tatbestand mit zu einer Verschleierung bei. Vor allem, wenn ethische Entscheidungskonflikte und Entscheidungsfindung in konkreten Situationen nicht mehr ausreichend besprochen, regelmäßig erörtert, diskutiert und Lösungen gesucht, Wünsche und Werte des Betroffenen und seiner Angehörigen nicht einbezogen werden, können unkontrolliert und eigenmächtig Entscheidungen über Leben und Tod getroffen und ausgeführt werden.

Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang deutlich wird, ist die Tatsache, dass außergewöhnlichen Vorkommnissen und „Irrtümern” zu wenig Bedeutung beigemessen und nachgegangen wird. Vielfältige Theorien, Diskussionen, Sichtweisen und Perspektiven, aber auch Kritik von unterschiedlichen Mitarbeitern und Berufsgruppen schützen mit vor der Gefahr, einer Ideologie zu erliegen, und bestimmen immer neu unseren berufsethischen Rahmen. Es fällt uns schwer, Hilflosigkeit und Ohnmacht zuzulassen, auszusprechen und mit anderen zu teilen, zu reflektieren, Andersartigkeit und Leid auszuhalten. Daher müssen wir uns der Auseinandersetzung mit den „dunklen Seite” unseres Berufes immer mit besonderer Sorgfalt zuwenden.

In ihrem Bericht kommt die im Zusammenhang mit den Patientenmorden eingesetzte Kommission zu dem Ergebnis, dass u. a. soziale Kompetenz und die Fähigkeit zu selbstverantworteter Konfliktlösung unverzichtbarer Voraussetzungen seien, um anderen Menschen zu helfen. Kommunikative und strukturelle Defizite und die ungenügende und späte Aufdeckung der Straftaten war ein weiterer zentraler Punkt. Die Auseinandersetzung auf allen Ebenen wird uns nicht erspart bleiben.

Am ersten September gedachten und gedenken jedes Jahr an vielen Orten Menschen, die mit der Versorgung psychisch kranker Menschen zu tun haben, anlässlich des sogenannten Euthanasieerlasses der Opfer des Nationalsozialismus, die in der Psychiatrie aktiv und mit der Beteiligung von Pflegern und Schwestern ermordet wurden. Die psychiatrisch Tätigen, auch die Pflegenden der NS-Zeit waren in der Regel weder sadistisch noch sonst wie bösartig, sie waren von dem therapeutischen Enthusiasmus getrieben, die ganze Gesellschaft und den Einzelnen vom Leiden zu befreien. Wenn sie den Einzelnen schon nicht heilen konnten, war es in ihrem Allmachtsanspruch folgerichtig, die „Endlösung” anzustreben, da es sich bei der Vernichtung bloß um Unproduktive, Hoffnungslose, Unheilbare und Störfaktoren handelte.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.”