Balint Journal 2007; 8(2): 44-53
DOI: 10.1055/s-2007-960583
Original

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Verändert sich die Arzt-Patient-Beziehung beim Hausbesuch? - Das Element der Zeitlichkeit: Brägele und Maultaschen

Does the Physician-Patient Relationship Change in House Visits? - The Element of Timeliness: Sausage and ChipsW. Schüffel1 , W. Stunder2
  • 1Kaffweg 17 a, 35039 Marburg
  • 2Hauptstraße 28, 77736 Zell am Harmersbach
Boris Luban-Plozza (1933-2001), dem Freund gewidmet.
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Publication Date:
27 June 2007 (online)

Zusammenfassung

Die These ist: Der Besuch im Haus des Patienten führt zu einer größeren Tiefenschärfe im Erkennen und zu gezielterer Intervention. Die Bedingungen einer qualitativen Forschung können unter den Gesichtspunkten der Arzt-Patient-Beziehung bzw. einer patientenzentrierten Medizin präzisiert werden. Zum Vorgehen: Die Bedeutung des Symptoms wird über die Zeit hin verfolgt. Das Symptom wird in seiner Ganzheit akzeptiert. Es wird angenommen, dass es die derzeitige Situation des Patienten spiegelt und zugleich biografisch bezogene Lösungsmöglichkeiten bietet. Integrierter Bestandteil des Vorgehens ist ein unmittelbar erfolgender Austausch von Hausarzt und Besuchsarzt über das Abgelaufene. Dieser beginnt bereits im PKW. Beide Ärzte achten auf eine Beziehungsklärung ihrer eigenen Situation. Die drei Geschichten: In drei Hausbesuchen werden charakteristische Verhaltens- und Verarbeitensweisen in ihrer biografischen Verwurzelung und Entwicklung herausgearbeitet. Sie legen dem Arzt einen spezifischen Umgang mit der Zeit nahe, der ausgesprochen qualitativ bestimmt ist. „Zeit ist keine Frage nach der Uhr, sondern eine Frage nach der Beziehung…” Diskussion: Tiefenschärfe und Interventionsmöglichkeit werden positiv beeinflusst. Das gilt auch für die Möglichkeit, die Bedingungen einer qualitativen Forschung zu klären. Ermöglicht wurde ein höheres Maß an Einblick in die Biografie und zugleich ein vertiefter Einblick in die Zusammenhänge zwischen bewussten und unbewussten Prozessen. Zu Hilfe kamen die Bereitschaft, die Einwirkungen der jeweiligen Landschaft, ein Verständnis der Abläufe im Sinne eines nondualistischen Es-Begriffes, einer praktizierten und sinnlich empfundenen Begleitung, eines bewussten Einlassens auf das Hier und Jetzt anzuerkennen. Das geschah im Rückbezug auf einen Lebensentwurf in dessen Zeitlichkeit. Somit wurde die Aufnahme des Elementes der Zeitlichkeit in die Arzt-Patient-Beziehung zu einem entscheidenden Ergebnis der Studie. - Schließlich war die politisch-geografische Situation des innovativen Projektes „Gesundes-Kinzigtal.de” als motivierender Faktor zu berücksichtigen.

Abstract

The hypothesis: The visit in the patient's home leads to a greater depth of focus in recognition and to more specific interventions. The conditions of a qualitative study could be more precisely defined from the points of view of the physician-patient relationship and a patient-centred medicine. Procedure: The significance of the symptom was followed over time. The symptom was accepted in its entirety. It was assumed that it reflects the current situation of the patient and, at the same time, offers possibilities for a solution related to the case history. An integral component of the procedure is an immediate exchange between the family doctor and the visiting doctor about the situation. This begins already in the car. Both physicians pay attention to a clarification of their own situations. Three Case Reports: In three home visits the characteristic modes of behaviour and work and their roots in the case history were worked out. They suggest a specific way of dealing with time for the physician that is principally determined qualitatively. “Time is not a question of the clock but rather a question of the relationship…” Discussion: Depth of focus and possibilities for intervention were posutuvely influenced. This also holds for the possibility to clarify the conditions for qwualitative research. Facilitated to a high degree are an insight into the case history and, at the same time, a deeper look at relationships between conscious and subconscious processes. Also helpful were the readiness to recognise the impact on the respective landscape, an understanding of the course in the sense of a non-dualistic id term, a practiced and an as sensuous-felt company, as well as a conscious admission of the here and now. This occurred as a reflection of the timeliness of a life draft. Thus, acceptance of the element of timeliness into the physician-patient relationship is one of the major results of the study. Last bit not least, the political-geographic position of the innovative project “Gesundes-Kinzigtal.de” as a motivating factor has to be taken into consideration.

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