Diabetologie und Stoffwechsel 2007; 2(1): 46-52
DOI: 10.1055/s-2007-960524
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zur Lage der Migranten mit Diabetes mellitus in Deutschland

The Situation of Migrants with Diabetes Mellitus in GermanyB. Parmakerli-Czemmel1 , B. Kalvelage1 , A. Demirtas1
  • 1Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Migranten in der DDG
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. Februar 2007 (online)

Wer ist ein Migrant?

Migration ist die menschliche Seite der Globalisierung unserer modernen Welt. Sie ist faszinierend und irritierend zugleich. Migrant ist, wer seinen Lebensmittelpunkt und Wohnort dauerhaft jenseits der Grenzen seines Nationalstaats verlagert. Nach dieser Definition ist die Gruppe der Migranten äußerst inhomogen: Nicht jeder Ausländer ist ein Migrant - nicht jeder Migrant ein Ausländer oder „Gastarbeiter”. Laut Mikrozensus 2005 des Statistischen Bundesamtes leben in Deutschland 15,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, das sind 19 Prozent der Bevölkerung, 10 Prozent davon sind Deutsche, 9 Prozent sind Ausländer.

Literatur

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Empfehlungen für die Diabetes-Behandlung von Migranten

Präambel

600 000 Migranten mit Diabetes sind medizinisch unterversorgt (Bad Neuenahrer Erklärung 2001), das sind zehn Prozent aller Diabetes-Kranken in Deutschland.

Soziale und nicht primär kulturelle Ursachen sind für die bisher unbefriedigenden Ergebnisse der Diabetes-Behandlung von Migranten verantwortlich: fehlende Beherrschung der deutschen Sprache, Schwellenängste, Bildungs- und Informationsdefizite und Analphabetismus.

Viele Migranten stehen heute repräsentativ auch für jene deutschen Patienten, die es durch ihren sozialen Status, durch begrenzte Teilhabe an Einkommen, Bildung und Information, durch körperliche oder seelische Handicaps schwer haben, das Selbstmanagement ihres Lebens und ihres Krankseins zu leisten. Armut zum Beispiel ist ein unabhängiger Risikofaktor für die Chronifizierung von Krankheiten und eine ungünstige Prognose (Armutsbericht der Bundesregierung 2005, Armutsberichte der Länder).

Die Vermeidung von Chronifizierung der primär chronischen Diabetes-Erkrankung und damit von Leiden und Kosten ist ein vorrangiges Ziel der DDG. Die Forderungen der St. Vinzent-Deklaration konnten noch nicht erfüllt werden, die Studien CODE 2, UKPDS und EDIC belegen die Notwendigkeit und den Nutzen einer intensiven Behandlung und Betreuung. Dies gilt auch für Migranten!

Die Deutsche Diabetologie ist nicht in der Lage, die gesellschaftlich versäumte Integration von Migranten herbeizuführen. Mit der Anerkennung der „AG Diabetes und Migranten” hat die DDG allerdings ein eindeutiges Signal für Chancengleichheit in der Diabetes-Versorgung in Deutschland gesetzt.

Die Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Migranten legt mit diesen Empfehlungen erstmals ein pragmatisches Konzept vor, das aus der Erfahrung vieler diabetologisch Tätigen vor Ort entstand und Grundlage für eine öffentliche Diskussion innerhalb der DDG werden soll. Es handelt sich um eine Zusammenfassung von „Selbstverständlichkeiten”, deren Umsetzung allerdings erfahrungsgemäß im Alltag oft an einer Fülle von Widrigkeiten scheitert.

Die Empfehlungen sollen Mut machen zum kreativen Umgang mit Migranten, sie sind durchdacht und praxiserprobt, aber (in einigen Punkten noch) nicht wissenschaftlich evaluiert. Sie sollen die DDG-Leitlinien nicht modifizieren oder gar ersetzen, sondern zu ihrer besseren Umsetzung in der alltäglichen Praxis beitragen.

Empfehlungen

1. Anamnese, Verständigung, Verständnis

Zur Überwindung der verbreiteten Sprachlosigkeit, der „sozialen Taubstummheit” im Umgang mit Migranten schlagen wir vor:

  • Vermehrte Beschäftigung von zweisprachigen Ärzten und Diabetesberatern

  • Förderung der Ausbildung von Bewerbern mit entsprechenden Voraussetzungen

  • Einbeziehung der Familien und Institutionalisierung kompetenter, erwachsener Angehöriger als Kotherapeuten (idealerweise erwachsene Kinder). Ehepartner haben oft selbst Verständigungs- und Verständnisprobleme und außerdem oft eigene Bedürfnisse und Konflikte, die unsere Botschaften an den Patienten für uns unbemerkt verändern können.

  • Bei allen gedolmetschten Gesprächen muss gelegentlich auf einer 1 : 1-Übersetzung bestanden werden. Die Beachtung der Körpersprache, Mimik und Gestik des Patienten kann Aufschluss geben, ob die Botschaft richtig angekommen ist. Oft ist gezieltes Nachfragen erforderlich: „Was kann schlimmstenfalls an den Augen passieren?”

  • Vermehrter Informationsaustausch und Kommunikation zwischen Hausarzt, Schwerpunktpraxis, Krankenhäusern, Diabetes-Zentren

  • Nutzung der individuellen Ressourcen (Familienbindung, praktische und emotionale Intelligenz, Erfahrungen aus der Küche, Kochrezepte, Betonung von Eigenständigkeit und Unabhängigkeit …)

  • Professionelle Dolmetscherdienste sind nicht unproblematisch: ungeklärte Kostenübernahme, fehlende spezielle Fachkompetenz, Gefährdung der Schweigepflicht, Misstrauen des Patienten, nicht adäquate Verfügbarkeit

  • Die unbestreitbaren Probleme in der Verständigung sollten nicht vorschnell „kultiviert” werden: sie sind oft auch sozialer Natur (s. 3.) und mit psychosozialem Gespür zumindest teilweise auflösbar.

2. Patienten-Schulung

Migranten mit Diabetes sind mit Erfolg schulbar, allerdings nicht mit den etablierten Schulungsprogrammen.

  • Vorhandene Informations- und Schulungsmaterialien bedürfen der kritischen Bewertung (anhand eines eigenen Scores); dies ist ein Schwerpunkt der Arbeit der AG.

  • Die individuell unterschiedlichen Voraussetzungen der Patienten für eine (grundsätzlich immer mögliche) Schulung müssen erfassbar gemacht werden (Hilfestellungen zur Einschätzung in Vorbereitung durch die AG), um Gruppen mit ähnlichen Voraussetzungen zu bilden und Materialien und Inhalte anzupassen.

  • Die frühzeitige Vermittlung der Blutzucker-Selbstkontrolle und der Dokumentation der gemessenen Werte ist oft der erste Schritt zum Selbstmanagement (Erkennen des Zusammenhangs zwischen BZ-Erhöhung und zuvor erfolgter Nahrungsaufnahme). Die Geräte sollten über eine große Speicherkapazität verfügen und möglichst ohne oder mit einer einfach durchzuführenden Kodierung funktionieren.

  • Schulungskonzepte müssen entgegen den (grundsätzlich berechtigten) Forderungen nach Strukturierung und Evaluierung oft erst noch kreativ entwickelt und individuell modifiziert werden, bevor eventuell Standardisierungen erfolgen können.

  • In vielen Einzelfällen ist eine Einzelschulung erforderlich.

  • Die Gruppengröße sollte in der Regel nicht mehr als 10 Patienten umfassen.

  • Die Anzahl der Schulungsstunden muss ggf. über die Vorgaben der bestehenden Diabetes-Verträge ausgedehnt werden, oft sind 15 bis 20 Schulungseinheiten erforderlich. Eine kontinuierliche Weiterbetreuung durch Hausarzt und Diabetologen muss gewährleistet sein.

  • Die Vergütung der Schulungen muss dem erhöhten zeitlichen und personellen Aufwand angepasst werden.

Migranten mit Diabetes sind mit Erfolg schulbar, es müssen die gleichen Inhalte vermittelt und die gleichen Ziele angestrebt werden.

  • Es bedarf aber einer didaktischen Reduktion entsprechend den Voraussetzungen der Teilnehmer (s. 2).

  • Materialien und Erfahrungen aus der pädiatrischen Diabetologie stehen beispielhaft dafür.

  • Essenzielle Inhalte müssen definiert, (individuelle) Schwerpunkte gesetzt werden: Bedeutung der Therapeut-Patienten-Beziehung (s. 3.) vor Wissensvermittlung; Vorrang von Verhalten(sänderung) und des praktischen Tuns (z. B. Selbstuntersuchung der Füße) vor interessanten pathophysiologischen Darlegungen; Anfassen statt Ansprechen; Vormachen statt Vortragen.

  • Mit der Übersetzung guter deutscher Schulungsprogramme in fremde Sprachen werden die Betroffenen oft nicht erreicht, sondern überfordert (z. B. MEDIAS 2, türkische Version)

  • Neue Schulungsmaterialien mit einem sich selbst erklärenden Inhalt sind nötig (Fotos, „Comics”, Videos). Die AG ist mit der Entwicklung solcher Materialien beschäftigt.

  • In der Ernährungsberatung sind kulturell geprägte Gewohnheiten zu beachten. Es ist sinnvoll nach süßen Nationalgerichten zu fragen, die erfahrungsgemäß an Feiertagen konsumiert werden (müssen). Bei Adipositas muss jeder Patient eine Chance zur individuellen Gewichtsabnahme angeboten bekommen.

  • Ernährungsempfehlungen müssen klar und eindeutig sein („maximal 2 Stücke Obst pro Tag” = zweimal eine Hand voll). „Freie Kost” ist für alle Patienten (mit Typ-2-Diabetes) eine missverständliche Parole und für Migranten eine Katastrophe!

  • Ernährungsprotokolle sind nicht richterlich auf Glaubwürdigkeit zu prüfen, sondern partnerschaftlich mit dem realen Leben in Einklang zu bringen. Zwischen den Mahlzeiten Gegessenes wird oft nicht als „Ernährung” angesehen („Was haben Sie gestern am Nachmittag gegessen?”)

  • Vermehrte Bewegung ist wichtiger als Gewichtsabnahme, beides muss praktikabel, kreativ und als persönliche Chance und nicht als Fremd-Forderung angeboten werden.

  • Fokale, individuelle Interventionen sind oft - vor allem in Einzelberatungen - wirksamer als allgemein gültige Statements: Die an Krücken gehende, adipöse Patientin ist eher von Schwarzbrot und Fettvermeidung als von „Sport” zu überzeugen.

  • Rituelle, z. T. mehrmals tägliche Fußwaschungen und häufiges barfuß gehen erfordern besondere Aufmerksamkeit bei der Fußpflege (Abtrocknen!), um Verletzungen oder Pilzinfektionen zu vermeiden.

3. Psycho-soziale Betreuung

Es gilt neben den individuellen Aspekten auch die besondere soziale und psychologische Situation der jeweiligen Migranten als ethnischer Gruppe zu berücksichtigen. Migranten können uns gelegentlich „aus dem Konzept” bringen. Vieles „Selbstverständliche” bedarf des bewussten, angepassten Einsatzes:

Das Empowerment-Konzept fördert auch bei Migranten das Selbstmanagement,

  • Es muss wohldosiert umgesetzt werden.

  • Es muss gegen Compliance-Wünsche vieler Patienten („Sag mir, was ich machen soll, du bist der Experte”) und angesichts von nicht eingehaltenen Vereinbarungen auch gegen Anwandlungen von Unmut beim Behandler („Ich bin es Leid, das immer wieder mit Ihnen zu diskutieren. Sie wissen doch, wie es richtig geht.”) aufrechterhalten werden.

  • Die „Auftragsklärung” ist schwieriger als bei deutschen Patienten, aber noch wichtiger, da nicht erfragte Motive, nicht ausgesprochene Erwartungen und die Ignorierung kulturell geprägter Fantasien des Patienten („Zucker in der Schwangerschaft macht schlaue Babys”) den weiteren Verlauf der Behandlung und der Beziehung entscheidend beeinflussen können.

  • Das „Abholen, wo sie stehen” erfordert u. U. völlig andere Wege (und Zeiten) als gewohnt, Lösungsstrategien müssen gemeinsam erarbeitet und erprobt werden. Die Tatsache der erfolgten Migration wird oft verleugnet (etwa sinngemäß: Ich lebe nicht in einem mir innerlich fremden Land, an dessen medizinischen Errungenschaften ich teilhaben soll.)

  • Gutes Zuhören (auch auf die Körpersprache! - s. 1) ist auch bei gedolmetschten Gesprächen erforderlich, wenn bei schlechter Verständigung dennoch Verständnis erreicht werden soll.

  • Es sind Konflikte mit Klinikverwaltungen und Ärzten in den Praxen auszutragen, solange die erforderliche Mehrarbeit(szeit) von den Kostenträgern nicht adäquat honoriert wird.

  • Das „Gesagt ist nicht Verstanden, Verstanden ist nicht Behalten, Behalten ist nicht Getan, Getan ist nicht Beibehalten” trifft auch bei vielen Migranten zu. Ein „Ja” ist häufig eine höfliche Geste besonders Ärzten gegenüber aber kein Signal der überzeugten Zustimmung.

  • Längere Heimaturlaube sind oft „Urlaube vom Diabetes”. Auf die Notwendigkeit, der Therapie auch im Urlaub treu zu bleiben, muss speziell hingewiesen werden (Einbeziehung der mitreisenden Angehörigen!). Alle Medikamente und Hilfsmittel müssen deshalb (auch unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten) in ausreichender Menge rezeptiert werden (Begründung: „Urlaubsmenge”, keine Budget-Probleme!).

  • Elemente des Selbstmanagements müssen mit individuell angepasstem Tempo eingebracht werden.

  • Hemmschwellen sollten unbedingt akzeptiert werden. Ein „Ausprobieren” (z. B. der Insulininjektion) sollte aber immer angestrebt werden.

  • Geduld ist erforderlich, häufige Wiederholungen und regelmäßige Kontrollen aller Schritte und Medikamente sind unvermeidlich.

  • Eine „neugierige” Grundhaltung ist hilfreich, um Frustrationen und Missverständnisse zu vermeiden.

  • Die Herstellung einer vertrauensvollen Beziehung ist stärker von nichtverbalen Gesten und Handlungen abhängig: gemeinsames Lachen, Berühren, „Handauflegen”, Akzeptanz und Respektierung befremdlicher Verhaltensweisen und Gewohnheiten, Verstärkung vorhandener Ressourcen, Integration der Familie in allen Behandlungs-Situationen.

  • Entängstigung und Abbau falscher Vorstellungen (schuldhafte Krankheitsverarbeitung, Dramatisierung von Injektionen) setzen ihre Wahrnehmung voraus, dabei ist der Behandler mehr auf empathisches Einfühlen als auf Verbalisierungen des Patienten angewiesen.

  • Balint-Gruppen-artige Team- und Fallbesprechungen schützen vor ungerechtfertigten, unmutigen Zuschreibungen und verhindern ein „Ausbrennen” des Einzelkämpfers. Ein Wechsel der Bezugsperson (Mann-Frau, alt-jung, Arzt-Beraterin-Psychologe) ist manchmal hilfreich und notwendig.

  • Schuldzuweisungen und Vorwürfe sind vermeidbar, wenn die Verantwortung des Patienten für seinen Diabetes grundsätzlich geklärt ist und vom Behandler innerlich akzeptiert wird. Die Aufgabe des Behandlers ist es, bei sich und dem Patienten auf Grenzen zu achten, um einerseits Besserwissen, Bevormunden und Vorwürfe („Ich habe Ihnen das doch schon zweimal erklärt!”) auf seiner Seite und Passivität und unangebrachte Wünsche des Patienten („Wo ist Mädchen dolmetschen?”) andererseits, also eine Kollusion zwischen Patient und Behandler, zu vermeiden. Dies gilt ganz besonders für Berater aus dem Kulturkreis des Patienten, die dabei u. U. die Unterstützung des Gesamtteams benötigen.

  • Die vorläufige Beendigung der Behandlung ist bei fehlender Motivation und nicht eingehaltenen (Schulungs-)Terminen manchmal unvermeidlich, sollte aber ohne Aufgabe oder Beschädigung der Beziehung, emotionslos und mit einer klar definierten Bedingung eines später möglichen Neubeginns verknüpft werden („Melden Sie sich bei uns, wenn Sie unsere Hilfe wollen”).

  • Bescheidenheit in der Zielsetzung beschert mehr Erfolge, die langfristig die coping-Kräfte des Patienten und die Arbeitszufriedenheit des Behandlers stärken.

  • Messbare Erfolge stellen sich oft erst im Laufe der Zeit ein, sie sind - allen kurzfristigen Qualitätskontroll-Anforderungen zum Trotz - kein taugliches Kriterium für die Güte der Behandlung/des Behandlers. Messwertzentrierte Qualitätsziele können im Gegensatz zum Prinzip des Empowerments (und den individuell zu vereinbarenden „Patienten-Zielen”) stehen, sie können u. U. unguten Compliance-Druck erzeugen („Dieser Patient verdirbt mir meine Statistik!”). Therapeutischer Nihilismus ist bislang das größte Qualitätsdefizit!

4. Berücksichtigung aller Risikofaktoren und aller Begleiterkrankungen

Die Schwierigkeiten, notwendige Verhaltensänderungen und eine bessere Diabetes-Einstellung zu erreichen, verlangen eine besondere Berücksichtigung und Behandlung begleitender - oft leichter zu beeinflussender - Risikofaktoren und Erkrankungen.

Auch Migranten mit Diabetes Typ 2 sind vor allem kardiovaskulär gefährdet!

  • Bei bekannter KHK oder Zustand nach Herzinfarkt oder Apoplexie muss die regelmäßige kardiologische Mitbehandlung gewährleistet sein.

  • Ein jährliches Belastungs-EKG bei Patienten über 50 Jahre ist wegen der oft atypisch präsentierten oder fehlender Symptomatik einer KHK zu fordern.

  • Erfahrungsgemäß wird gerade bei Migranten der Diabetes erst nach eingetretenem Herzinfarkt gezielt eingestellt, während die begleitenden Risikofaktoren nach dem Infarkt häufig vernachlässigt werden.

  • Optimale Blutdruckeinstellung und risikoadaptierte Behandlung einer Hyperlipämie sind erforderlich.

  • Möglichkeiten zur Nikotinkarenz müssen aktiv angeboten werden.

  • Die von Folgekrankheiten drohenden Gefahren müssen bei einem ängstlich-bewussten Patienten eher relativiert, bei naiv-unbewussten (das ist meist die Ausgangssituation bei Migranten) dagegen stärker akzentuiert werden. Zukunftsvisionen (auch und gerade negative) (vorher)sehen zu können, ist eine intellektuelle Leistung!

  • Berücksichtigt und ggf. ausgeschlossen werden müssen auch (anamnestisch oft nicht zu erhebende) bekannte oder bisher unentdeckte Begleiterkrankungen (Abhilfe durch Kommunikation mit Mitbehandlern, Einsehen von Krankenhausberichten, vorsorgliche Erweiterung des Laborprogramms) wie zum Beispiel: Zöliakie, pluriglanduläre Insuffizienz-Syndrome, Akromegalie, Autoimmun-Krankheiten, Kortisonbehandlung wegen Rheuma oder Asthma, Hämoglobinopathien (bei diskrepanten, nicht verwertbaren HbA1c-Werten), Medikamentenunverträglichkeiten, Malignome (und deren erforderliche Nachsorge).

  • Der regelmäßig und umfassend geführte Gesundheitspass Diabetes ist unverzichtbar für die Kommunikation mit Vor- und Nachbehandlern.

  • Depressionen sind häufig. Sie können Folge der schlechten Stoffwechseleinstellung und von Diabetes-Komplikationen (Polyneuropathie-Schmerz, erektile Dysfunktion, Sehstörungen) sein. Sie sind fast immer Ausdruck fehlender „coping”-Strategien gegenüber Krankheit(en) und den speziellen Lebensumständen. Das Meistern des Diabetes kann so für den Patienten und seine Umgebung zu einer Chance werden, für die Bewältigung auch anderer Schwierigkeiten.

  • Frühes Screening auf Gestationsdiabetes ist besonders bei übergewichtigen Schwangeren mit positiver Familienanamnese erforderlich - verbunden mit einer generellen Ernährungsberatung und rechtzeitigen Insulinbehandlung (s. auch 5.).

5. Insulinbehandlung

„Mehr Insulin” und ein rechtzeitiger Beginn der Insulinbehandlung sind auch bei Migranten zu fordern.

Migranten mit Diabetes sind in der Regel von der Notwendigkeit und dem Nutzen der Insulinbehandlung zu überzeugen.

  • Ärzte müssen oft noch davon überzeugt werden, dass weder Analphabetismus noch Blindheit oder andere Handicaps primär eine Insulin-Kontraindikation darstellen.

  • Migranten sind besonders gefährdet im Sinne einer „self fullfilling prophecy” - „ist nicht in der Lage, Insulin zu spritzen” - u. U. jahrelang mit einem Cocktail oraler Antidiabetika bei zweistelligem HbA 1 c „behandelt” zu werden. Dabei besteht oft ein unausgesprochenes Stillhalte-Abkommen zwischen Arzt und Patient.

  • Rechtzeitig mit der Insulinbehandlung bei Gestationsdiabetes beginnen („Sie spritzen das Insulin für Ihr Kind!”).

  • Vorurteile gegen Insulin sind bei Migranten besonders verbreitet und müssen geduldig, aktiv ausgeräumt werden vor (!) seinem ersten Einsatz: Insulin mache abhängig, schade der Niere, die Injektion sei schmerzhaft und kompliziert wie eine Blutentnahme bei schlechten Venen, die Injektion erfordere einen immensen Aufwand, Insulin sei giftig („weil es gespritzt werden muss”), Insulin stamme von Leichen oder Tieren („Schwein”), Insulin sei „Chemie”…

  • Die Darstellung des Textumfangs der Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel der oralen Antidiabetika im Vergleich zu Insulin überzeugt auch des Lesens nicht mächtige Patienten.

  • Die Demonstration eines modernen Insulin-Pens und eine (fast immer mit Verblüffung als schmerzfrei empfundene) Probepunktion (ohne Insulininjektion), bauen Ängste ab. Überzeugen kann im Einzelfall auch die vom Behandler an sich demonstrierte Injektion.

  • Die Auswahl des Insulin-Pens hängt von der Geschicklichkeit und dem Zahlenverständnis des Patienten ab. Pens mit der Möglichkeit einer festen Dosisvorgabe (z. B. Optiset) oder der Markierung der zu wählenden Dosis (z. B. Innolet) und Hilfsmittel zur Vermeidung der aktiven Punktion (z. B. Pen-mate, Diapen) sind oft hilfreich.

  • Die Gruppen-Erfahrung mit bereits Insulin spritzenden Patienten trägt zur Überzeugungsarbeit bei.

  • Die Insulin-Schemata müssen oft einfach sein, eine intensivierte Insulintherapie mit BE-bezogener prandialer Insulingabe ist häufig nicht möglich und (zumindest bei Typ-2-Diabetes) oft auch nicht nötig. Fixe Dosierungen mit einfachen Anpassungsregeln entsprechend einer supplementären Insulintherapie sind in der Regel erfolgreich durchführbar.

6. Der „unerklärlich” hohe Blutzucker (BZ)

ist ein häufiges Phänomen, das es gemeinsam mit dem Patienten zu erforschen gilt („Wie haben Sie das gestern denn geschafft, auf einen BZ von 540 zu kommen ?”). Dabei möchte sich kein Patient gerne überführt fühlen. Es handelt sich auch bei Migranten meist um durchaus rational erklärliche Blutzucker-Entgleisungen, die allerdings - bei Verständigungsproblemen - eine besonders akribische Abklärung erfordern. Ziel dabei ist nicht die Aufklärung der „Diätsünde” sondern die Einsicht des Patienten in Zusammenhänge. Dazu kann eine Check-Liste dem Behandler als Hilfe dienen:

6.1 Spritzen und Spritztechnik:

  • Injektionsstellen (Lipodystrophien, Narben, Injektion von Normalinsulin am Oberschenkel, kein Wechsel der Injektions-Stelle )

  • Pen zu früh herausgenommen (10 s-Frist)

  • gequetschte Hautfalte

  • intrakutane Injektion

  • zeitlich nicht gespritzt wie vereinbart

  • Insulin weggelassen bei gutem BZ

  • Vorspritzen von Insulin („in die Luft”) bei bereits eingestellter Dosis

  • zu kurzer Spritz-Ess-Abstand

6.2 Insulin-Pen:

  • falsches Insulin im Pen

  • Pen-Defekt nicht bemerkt

  • Kanüle zu kurz, falsches Fabrikat, Nadel verstopft, zu lange benutzt

  • Punktion ohne Injektion (Abdrücken des Pens vergessen)

  • falsche Dosis eingestellt (Optipen: falsch herum gehalten: aus 02 E werden 20 E; 1. Injektion nach Ampullenwechsel ist falsch dosiert bei alten Modellen)

  • bei neuer Patrone Stempel nicht angefahren

6.3 BZ-Selbstkontrolle:

  • Vorquetschen des Bluttropfens

  • Hände nicht gewaschen vor Blutabnahme

  • Kodierung falsch

  • Teststreifen feucht, verfallen

  • Blutmenge auf Teststreifen stimmt nicht

  • Einstellung des BZ-Geräts falsch (mmol/l statt mg%)

  • Hkt-Erniedrigung unter 30 %

  • Triglyzerid-Erhöhung (Precision Xtra und Glucometer Elite/Ascensia XL messen bis 3000 mg%)

  • Gerät defekt

  • fehlender Geräte-Vergleich mit sicherem Gerät mindestens 1 ×/Quartal (z. B. Haemocue: max 15 % Abweichung)

  • unzulässiger Geräte-Vergleich aus zeitlich versetzten Blutabnahmen

6.4 Tagebuch:

  • TB wird nicht geführt

  • Messungen sind postprandial erhoben

  • BZ-Messung unmittelbar nach Zwischenmahlzeit

  • keine zeitbezogene Eintragung

  • HbA1c-BZ-Diskrepanz: bei „geschönten” Tagebuch-Eintragungen Vergleich mit Speicherwerten

  • im Speicher des BZ-Geräts sind „fremde” BZ-Werte (von Verwandten)

6.5 Ernährung:

  • „freie Kost” (große Obstmengen, unregelmäßige Mahlzeiten, süße Getränke, Honig …)

  • Ausprobieren von schnellen KHs („Naschen”)

  • fehlendes KH-Gerüst bei CT oder OADs

  • BE-Faktoren zu niedrig

  • falsche Einschätzung verzehrter BEs

  • sehr kohlenhydrathaltige Mahlzeiten („BE-Exzesse”)

6.6 „falsches”/fehlendes Insulin:

  • Kurz-Analogon bei Zwischenmahlzeiten (bei SIT oder „unabgedeckt” bei ICT)

  • fehlende Basis

  • Basis-„Anpassung” an aktuelle BZ-Werte

  • zu niedrige Insulin-Dosis bei Insulin-Resistenz

  • kein Insulin bei tatsächlichem Vorliegen eines sekundären Tablettenversagens

  • Insulin-„Verweigerung”

  • Unterdosierung (Vergleich von Insulin-Dosierung mit rezeptiertem Insulin-Verbrauch )

  • verfallenes Insulin

  • ungenügende Mischung bei Verzögerungs- oder Mischinsulinen

6.7 Dawn-Phänomen:

  • Basis zu niedrig

  • NPH-Versagen

  • nächtliche Hypo

6.8 Hypoglykämie-Folgen:

  • reaktive Hyperglykämie (z. B. bei „Tieffliegern”)

  • Hypo-Angst („Hochflieger”)

  • gestörte Hypo-Wahrnehmung

  • Extra-BEs bei vermeintlich gefühlter aber nicht nachgewiesener Hypo

6.9 Schlaf-Anamnese:

  • imperatives nächtliches Essen (Hypo?)

  • Nykturie am frühen Morgen für Extra-Insulininjektion nutzen bei Insulin-Resistenz

6.10 Bewegungs-Anamnese:

  • „faule” Tage mit erhöhtem Insulin-Bedarf

  • allgemeiner Bewegungsmangel

6.11 Einfluss von Begleit-Erkrankungen:

  • ungenügende/fehlende Dosis-Anpassung bei erhöhtem Bedarf (Infekte)

  • Kortisonbehandlung, Diuretikatherapie

  • andere Hormonstörungen (s. 4.)

7. Disease Management Programm Diabetes

Migranten können von den Absichten des DMP profitieren, aber

  • Es wurde bisher von den Krankenkassen versäumt, diese Patientengruppe adäquat anzusprechen, es fehlen bis heute bundesweit Einverständnis-Erklärungen und Informationen in Fremdsprachen.

  • Manche Migranten versäumen die Fristen für die geforderten Folgedokumentationen durch längere Auslandsaufenthalte. Sie sollten nicht automatisch aus dem DMP ausgeschlossen werden. Im Einzelfall kann es hilfreich sein, einen Dokumentationsintervall von 6 Monaten zu wählen (optimal zweites und viertes Quartal).

  • Bei dem insgesamt eher zu groß angelegten Datenvolumen wurde auf die Erfassung von psychosozialen Items wie Beherrschung der deutschen Sprache, Schulbildung und die Abschätzung der Schulungsvoraussetzungen (siehe 2) verzichtet. Sie sollten zukünftig unter Einbeziehung der AG und ihrer konkreten Vorschläge Berücksichtigung finden.

  • Günstig für die Motivation zum besseren (Selbst-)Management des Diabetes sind die von einzelnen Krankenkassen angebotenen finanziellen Erleichterungen bei Praxisgebühr und Befreiung von der Medikamentenzuzahlung.

Dr. B. Parmakerli-Czemmel

Sprecher der AG Diabetes und Migranten

G3, 9

68159 Mannheim

eMail: parmakerli-czemmel@t-online.de

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