Psychiatr Prax 2008; 35(1): 46-47
DOI: 10.1055/s-2007-1022674
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Die Klinik als Ort eingeschränkten Rechtsschutzes

Ein Kommentar zum Beitrag von F. M. Böcker
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Publication Date:
24 January 2008 (online)

 

Herr Kollege Böcker hat die wesentliche Argumentationslinie in dieser immer wieder geführten Diskussion herausgearbeitet: Eine paternalistisch-therapeutisch motivierte vermeintliche Toleranz gegenüber Patientenübergriffen unter Verzicht auf eine rechtsstaatliche Behandlung derselben impliziert letzten Endes, wenn auch primär fürsorglich gemeint, die Prinzipien der totalen Institution, die nach ihren eigenen Regeln lebt und handelt - und damit einen deutlich eingeschränkten Rechtsschutz nicht nur für die MitarbeiterInnen der Institution, sondern auch in der Konsequenz für von Übergriffen betroffene MitpatientInnen und für die berechtigten Schutzbedürfnisse der PatientInnen selbst gegenüber Übergriffen und Anmaßungen der Institution. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung und aktuellen, durchaus begrüßenswerten Entwicklungen wie User-Empowerment und Entstaatlichung psychiatrischer Institutionen kann der Anspruch, dass in unseren Institutionen dieselben Gesetze in gleichem Maße gelten müssen wie in der übrigen Gesellschaft, nicht mehr ernsthaft infrage gestellt werden. Genau dies geschieht aber leider doch, und zwar viel weniger aus ethischen Überlegungen einzelner Psychiater als vielmehr von Seiten der Justiz, die die Entscheidung, ob Patienten "forensifiziert" werden, keineswegs ohne Weiteres den Psychiatern überlässt. Diesbezüglich maßgeblich erweist sich ein in unserer Fachöffentlichkeit bisher noch wenig diskutiertes Urteil des BGH vom 22.1.1998 [1]. Die Bedeutung dieser Entscheidung ist als zunehmend einzuschätzen, weil sie mit einer gewissen Verzögerung erst in den letzten Jahren in die Rechtssprechung der örtlichen Instanzen durchsickert. Der Urteilstenor lautet:

"Eine zivilrechtliche Unterbringung hindert - wie auch eine solche nach den landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen - zwar grundsätzlich nicht die Anordnung der Maßregel nach §63 StGB; beide Unterbringungen können nebeneinander bestehen. Hat der Beschuldigte die krankheitstypischen und krankheitsbedingten Anlasstaten jedoch im Rahmen einer zivilrechtlichen Unterbringung begangen und sind Tatopfer die Angehörigen des Pflegepersonals, dem seine ihn und die Allgemeinheit schützende Betreuung obliegt, so bleibt regelmäßig für die Maßnahme nach §63 als Rechtsfolge kein Raum."

In der Begründung wird ausgeführt, dass eine strafrechtliche Unterbringung nur aus Anlass von Taten in Frage komme, zu denen es "vor der konkurrierenden (zivilrechtlichen oder polizeirechtlichen) Unterbringung oder während einer Unterbrechung einer solchen Maßnahme gekommen ist".

Im damals verhandelten und in der Urteilsbegründung ausführlich diskutierten Fall handelte es sich um einen leicht geistig behinderten Mann, der seit dem 16. Lebensjahr in einer psychiatrischen Fachklinik lebte und zum Zeitpunkt der Anlasstat seit über 20 Jahren vormundschaftlich dort untergebracht war. Wegen seines aggressiven Verhaltens galt er als der "schwierigste Patient" der Klinik, es erfolgte schließlich praktisch eine Dauerfixierung. Bei den zur Anzeige gebrachten Taten hatte der Patient in insgesamt 15 Fällen Angehörige des Pflegepersonals schmerzhaft an Armen und Brust gekniffen, gekratzt, an den Haaren gerissen oder auf den Kopf bzw. ins Gesicht geschlagen. Das Gericht kam zu der Ansicht, das Verhalten des dauerhaft Untergebrachten gegenüber dem im Umgang mit schwierigen und aggressiven Patienten geschulten Personal sei "nicht gleichzusetzen mit Handlungen, die ein schuldunfähiger oder vermindert schuldfähiger Täter im Leben in Freiheit gegenüber beliebigen Dritten oder ihm nahe stehenden Personen begeht". Im vorliegenden Fall sei nicht davon auszugehen, dass der Beschuldigte in einer forensischen Klinik sicherer untergebracht wäre, zumal er praktisch dauerfixiert sei, die Gefahr dadurch bereits weitgehend eingedämmt sei und eine Entlassung mit Gefährdung der Öffentlichkeit nicht zu erwarten sei.

Ohne dies aus therapeutischer Sicht kommentieren zu wollen, ist die Entscheidung des BGH hier auch für den Psychiater nachvollziehbar, wenngleich man durchaus anführen mag, dass die Verlegung in eine forensisch-psychiatrische Klinik sogar eine therapeutisch-rehabilitative Chance hätte bedeuten können. Viel problematischer ist aber, dass die damit erfolgte grundsätzliche Ablehnung derartiger Unterbringungen jenseits des angesprochenen Einzelfalls die allgemeine Rechtssprechung in formal ähnlich gelagerten Fällen präjudiziert. An unserer eigenen Klinik war die Tat eines Patienten zur Anzeige gebracht worden, der eine Krankenschwester so heftig auf den Kopf geschlagen hatte, dass sie eine Commotio erlitten hatte. Der Patient litt an einer Schizophrenie, wies aber auch eine bereits vorbestehende langjährige dissoziale Entwicklung auf und hatte eine Vorgeschichte zahlreicher Klinikaufenthalte mit zum Teil ausgeprägt aggressiven Verhaltensweisen, jeweils nach Absetzen der Medikation. Die Staatsanwaltschaft Ravensburg stellte das Verfahren ein, ohne überhaupt ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag zu geben, unter weitgehend wörtlicher Zitation des BGH-Urteils: "Der Beschuldigte hat die krankheitstypischen und krankheitsbedingten Anlasstaten im Rahmen der bereits aus anderen Gründen angeordneten Unterbringung begangen. Die Tatopfer sind Angehörige des Pflegepersonals, dem seine ihn und die Allgemeinheit schützende Betreuung obliegt. Die Anlasstaten sind nicht dem Bereich schwerster Rechtsgutverletzungen zuzuordnen (geringe Verletzungsfolgen)." Aus anderen Kliniken wurden uns ähnliche Fälle bekannt. Damit ist die psychiatrische Klinik zwar nicht ein rechtsfreier Raum, aber doch ein Raum, in dem die Beschäftigten hinsichtlich ihrer physischen und psychischen Integrität einen verminderten Rechtsschutz genießen und Verletzungen als impliziten Teil ihrer Berufstätigkeit einkalkulieren müssen. In der Entwicklung und gesellschaftlichen Positionierung der psychiatrischen Versorgung ist dies ein skandalöser Rückschritt.

Tilman Steinert, Weissenau

Email: tilman.steinert@zfp-weissenau.de

Literatur

  • 01 Anlasstaten im Rahmen einer zivilrechtlichen Unterbringung. BGH, Urteil vom 22.01.1998 - 4 StR 354/97. NStZ 1998, 405. 
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