Fortschr Neurol Psychiatr 1982; 50(7): 215-239
DOI: 10.1055/s-2007-1002265
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer epidemiologischer Surveys für geographisch definierte Populationen in Europa

Possibilities and Limitations of Psychiatric Epidemiological Surveys of Geographically Defined Populations in EuropeA.  Jablensky1 , Heidemarie  Hugler2
  • 1Division of Mental Health, Weltgesundheitsorganisation (WHO), Genf, Schweiz
  • 2Sektion Psychologie der Humboldt-Universität, DDR-102 Berlin
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Publication Date:
11 January 2008 (online)

Abstract

The epidemiological survey of mental morbidity in geographically defined populations is an important part of the European psychiatric research tradition since the end of the 19th century. Probably more than 100 such studies have been carried out in different parts of Europe over the last eight or nine decades, but many of them remain little known because of language or source inaccessibility. From a methodological point of view, surveys can be classified according to: (I) populations selected for study (rural, urban or mixed; island populations; small communities or large populations); (II) goals of the survey and the definition of a "case" of mental disorder; (III) type of design (birth cohort studies, surveys of whole communities, sample surveys with or without pre-screening, general practice surveys and surveys of "declared" psychiatric morbidity); (IV) method of assessment and diagnosis of cases; and (V) epidemiological indices used to summarize and present data. In schizophrenia, there is relatively good agreement between the rates of prevalence, incidence and morbid risk obtained in surveys in different countries and at different points in time. Although these data probably belong to the best documented evidence in psychiatric epidemiology, they leave many questions about the nature of schizophrenia unanswered. In affective disorders, there is a trend for higher rates to be reported in more recent studies but it is not known how much of this is attributable to a broadening of the diagnostic concept and how much to a real increase in frequency. The most remarkable changes over time have occurred in the epidemiological estimation of the frequency of neurotic disorders; the very low prevalence found in earlier surveys contrasts sharply with the extremely high rates reported in some of the recent studies. A lowering threshold of reporting neurotic symptoms, improved diagnostic techniques, and changes in the structure of morbidity of European populations may all have contributed to this trend. As regards the total volume of psychiatric morbidity in European populations, there is no doubt that it ranks very high among all health problems. Depending on the case-definition adopted, between 5 and 30 per cent of the members of a community are suffering from mental disorder at any point in time, and between 4 and 14 per cent are functionally and socially impaired because of mental illness. Notwithstanding their contributions to knowledge and to the planning of services, epidemiological surveys of mental morbidity have not entirely fulfilled their scientific role because of numerous methodological obstacles. Many of these obstacles can be overcome in the near future and we may see important new developments in psychiatric epidemiology in Europe.

Zusammenfassung

Die epidemiologische Survey geistiger Morbidität in geographisch definierten Populationen bildet seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einen wichtigen Bestandteil der europäischen psychiatrischen Forschungstradition. In verschiedenen Teilen Europas sind während der vergangenen 8-9 Jahrzehnte schätzungsweise mehr als 100 solcher Studien durchgeführt worden, jedoch blieb ein Großteil davon verhältnismäßig unbekannt aufgrund von Sprachen- oder Quellenunzugänglichkeit. Von einem methodologischen Gesichtspunkt her können Surveys klassifiziert werden nach: I) ausgewählten Untersuchungspopulationen (ländlich, städtisch oder gemischt; Inselpopulationen; kleine Gemeinden oder große Populationen); II) Zielsetzung der Survey und Falldefinition von psychischen Störungen; III) Designtyp (Geburtskohortenstudien, Totalerhebungen; Strichprobenerhebungen mit oder ohne Filtertechnik, Allgemeinpraxissurveys und Surveys ,,erklärter" psychiatrischer Morbidität; IV) klinischer Beurteilung und Falldiagnostik und VI) epidemiologischen Häufigkeitsziffern für die Zusammenfassung und Präsentation der Daten. Bei der Schizophrenie besteht eine relativ gute Übereinstimmung zwischen den einzelnen Erhebungen, bezüglich der Prävalenz-, der Inzidenzraten und des Erkrankungsrisikos, die in Surveys in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeitpunkten erzielt wurden. Obwohl diese Daten wahrscheinlich zu den am besten dokumentierten Belegen in der psychiatrischen Epidemiologie gehören, lassen sie doch viele Fragen zum Wesen der Schizophrenie unbeantwortet. Bei affektiven Psychosen zeichnet sich in neueren Studien ein Trend zu größeren Häufigkeitsziffern ab, es ist jedoch nicht bekannt, welcher Anteil auf eine Erweiterung des diagnostischen Konzepts zurückzuführen ist, und inwieweit es sich um eine wirkliche Häufigkeitszunahme handelt. Die auffallendsten Veränderungen während der Berichtsperiode zeigten sich in der epidemiologischen Berechnung der Häufigkeit neurotischer Störungen; die sehr niedrige Prävalenzrate, die in früheren Surveys ermittelt wurde, kontrastiert scharf mit den extrem hohen Raten neuerer Studien. Eine Herabsetzung der ,,Schwelle" für neurotische Symptome, verbesserte diagnostische Methoden, und eine Veränderung der Struktur der Morbidität europäischer Populationen, haben möglicherweise gemeinsam zu diesem Trend beigetragen. Was das Gesamtausmaß psychiatrischer Morbidität in europäischen Populationen betrifft, so besteht kein Zweifel daran, daß sie sehr hoch unter allen Krankheitserscheinungen rangiert. In Abhängigkeit von der angewandten Falldefinition variiert der Anteil der Bevölkerung, der irgendwann einmal an einer psychischen Störung leidet zwischen 5 und 30%, und zwischen 4 und 14% sind funktionell und sozial aufgrund einer Geisteskrankheit behindert. Ungeachtet ihres Beitrags zu neuen Kenntnissen und zur Planung von Gesundheitseinrichtungen haben epidemiologische Surveys der geistigen Morbidität, aufgrund zahlreicher methodologischer Schwierigkeiten, ihre wissenschaftliche Aufgabe nicht gänzlich erfüllt. Viele dieser Hindernisse können in naher Zukunft überwunden werden, und wichtige Neuentwicklungen zeichnen sich in der psychiatrischen Epidemiologie in Europa ab.

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