Psychiatr Prax 2007; 34(1): 50
DOI: 10.1055/s-2006-959067
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Sozialpsychiatrische Gesundheitspsychologie

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Publication Date:
31 January 2007 (online)

 

Nehmen Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie zu, und wenn ja warum? Dies war in den Jahren 2004 und 2005 Gegenstand einer lebhaften Kontroverse in der Psychiatrie, ausgelöst durch einen Beitrag von Müller im Deutschen Ärzteblatt, gefolgt von u. a. einer provokativen und aus psychiatrischer Sicht sehr einseitigen Fernsehsendung in "Nano", einem Symposium auf dem DGPPN-Kongress und einer umfangreichen Analyse des vorliegenden Datenbestandes in Deutschland durch ausgewiesene Experten im "Nervenarzt" im Mai 2005. Der jetzt folgende Beitrag ist keine Binnendiskussion der Psychiatrie, sondern repräsentiert eine andere Perspektive. Der Autor vertritt das Lehrgebiet klinische Psychologie und Psychotherapie am Lehrstuhl für Gesundheits- und klinische Psychologie der Universität Oldenburg und hat sich mit der vorliegenden Schrift zur Sozialpsychiatrischen Gesundheitspsychologie habilitiert. Die angesprochene Kontroverse, die viele in der Versorgung tätige Psychiater in Deutschland bewegt hat, findet in dem Beitrag allerdings keinen Widerhall, aus der Lektüre wird nicht klar, ob der Autor sie überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Er konzentriert sich hier auf die Gesundheitsversorgung in Bremen, wo die sowohl stationäre als auch komplementäre Versorgung nach gängigen sozialpsychiatrischen Maßstäben vorbildlich organisiert sind, u.a. steht ein psychiatrischer Krisendienst klinikextern 24 Stunden zur Verfügung. Dass trotzdem auch in Bremen eine Zunahme gerichtlicher Unterbringungen festzustellen war, gab Anlass zu mehreren Studien im Rahmen der Qualitätssicherung, die in dieser Arbeit integrierend mitsamt dem theoretischen Hintergrund dargestellt werden sollen.

Bei insgesamt 69 vom Kriseninterventionsdienst begleiteten Krisen von insgesamt 57 Patienten wurden, soweit möglich, die beteiligten MitarbeiterInnen des Krisendienstes und die Nutzer (Patienten, Angehörige, Polizeibeamte) zu den vermuteten Ursachen der "Krise" und möglichen Lösungsmöglichkeiten befragt. In einer zweiten Teilstudie wurden bei 30 Unterbringungen 31 verschiedene beteiligte MitarbeiterInnen hinsichtlich der Einflussfaktoren auf die Entscheidung befragt, um u.a. die Qualität der erfolgten Begutachtung zu prüfen.

Beide Teiltersuchungen sind in dieser Weise sinnvoll und originell, wenngleich die Ergebnisse letztlich den Erwartungen entsprechen (Patienten, Angehörige und Helfer haben teilweise differierende Vorstellungen über die Ursache einer "Krise" und die Rechtsvorschriften bilden sich nicht immer strikt in den dokumentierten Begutachtungen bzw. Entscheidungsprozessen ab). So weit, so gut. Das Problem ist allerdings das gesamte Beiwerk. Das beginnt damit, dass das vorgestellte quantitative Zahlenmaterial praktisch nicht verwertbar ist. Z.B. verwendet der Autor "Zwangseinweisung" und "Unterbringung" synonym, obwohl nun jeder, der in diesem Feld arbeitet, weiß, dass einer Unterbringung keineswegs immer einer Zwangseinweisung vorausgeht und einer Zwangseinweisung nicht regelmäßig eine Unterbringung folgt. Auch die notwendige Differenzierung der Unterbringungen nach Psych-KG und Betreuungsrecht unterbleibt, wie überhaupt der gesamte Komplex Betreuungsrecht, der bei diesem Thema ein essenzieller Bestandteil jeder Diskussion sein muss, völlig außen vor bleibt. Der theoretische Teil des Buches enthält Kapitel wie "Kritik am psychopathologischen Krankheitsbegriff", wobei die gesamten Antipsychiater der 60er-Jahre von Laing bis Szasz noch einmal zu Wort kommen dürfen, ohne dass aber letztlich klar wird, wie die Brücke zum aktuellen Untersuchungsgegenstand geschlagen wird und welche Position der Autor hier eigentlich einnimmt. Dasselbe gilt für das salutogenetische Gesundheitsmodell von Antonovsky und andere gesundheitspsychologische Modellvorstellungen, die zwar in Breite referiert werden, deren Bezug zum konkreten Gegenstand und den erhobenen Ergebnissen aber dürftig bleibt. Das im Klappentext angekündigte "innovative, gesundheitspsychologische Modell der sozialpsychiatrischen Krisenintervention" bleibt insofern ein vollmundig formulierter Anspruch, dessen theoretischer Unterbau mit den mitgeteilten Befunden nur höchst vage Verknüpfungen hat. De facto reduziert sich das "Lösungsmodell" nämlich weitgehend auf die Paraphrasierung der geäußerten Wünsche der Beteiligten: "Interventionsangebote mit einem möglichst hohen Grad an Autonomie und Selbstbestimmung zur Lösung individueller und sozialer Probleme des Lebensvollzugs", "alternative Aufenthaltsorte mit einer 24-Stunden-Dienstbereitschaft", Case manager, psychiatrisches Testament. An dieser Stelle müsste eigentlich die kritische Diskussion der genannten Punkte erfolgen. An Literatur dazu fehlt es bekanntlich nicht, und gerade bei dem Thema "Case manager" gibt es bekanntlich bereits systematische Übersichtsarbeiten, Kosten-Nutzen-Analysen usw. In der speziell deutschen Diskussion ist diese Frage wiederum von Einrichtung und Wirkung der gesetzlichen Betreuer kaum zu trennen, und man hätte zu Recht darauf hinweisen können, dass es einen großen Mangel an Evaluationsforschung in diesem Bereich gibt. Diese kritische Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Kenntnisstand und der Literatur unterbleibt im vorliegenden Buch jedoch weitgehend, ebenso wie man auch die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Methoden nahezu vollständig vermisst. Kurzschlüssig sind auch die Schlussfolgerungen zur Qualität der Begutachtung. Nachvollziehbar konnte der Autor feststellen, dass in den Begutachtungen die Befunde nicht nach AMDP und die Diagnosen nicht nach ICD-10 dokumentiert sind. Den Beweis für seine Schlussfolgerung, dass in einer derartigen Standardisierung der Schlüssel zur Lösung des Problems liegt, bleibt er aber schuldig bzw. übersieht, dass solche Evidenz erst einmal erbracht werden müsste. Zweifellos ist es für die Psychiatrie befruchtend und eine Möglichkeit zur Erweiterung des Erkenntnishorizontes, wenn sie ihren Gegenstand mit benachbarten Disziplinen wie Philosophie, Soziologie, Psychologie und Geschichte teilen kann. Konstruktiv wird dies aber wohl erst aus der tatsächlich interdisziplinären Zusammenarbeit mit einer gemeinsamen Nutzung der vorhandenen Wissensbasis. Die vorliegende Arbeit kann diesem Anspruch leider nicht genügen.

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