Fortschr Neurol Psychiatr 2007; 75(4): 191-192
DOI: 10.1055/s-2006-954968
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Brauchen wir ICD-11 und DSM-V?

Are ICD-11 and DSM-V Necessary?H.  J.  Freyberger1
  • 1Klinink und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald am Hanse-Klinikum Stralsund
Further Information

Publication History

Publication Date:
10 April 2007 (online)

Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre fand um die Einführung operationalisierter Diagnosensysteme in Deutschland eine breite wissenschaftliche Diskussion statt (vgl. u. a. [1] [2] [3]), die in dieser Zeitschrift 2003 noch einmal von Uwe Hendrik Peters aufgegriffen wurde (vgl. [4] [5]). Diese Diskussion bezog sich u. a. auf die mit der Etablierung von ICD-10 und DSM-IV verbundenen Aufgabe mehr oder weniger komplexer diagnostischer und metapsychologischer Modelle und Konstrukte zu Gunsten reliablerer, aber einfacher Symptom-, Zeit- und Verlaufskriterien und diagnostischer Algorithmen. Aber hat dies tatsächlich, wie von vielen Kritikern befürchtet, zu einer „Verarmung” psychiatrischer Diagnostik (und der Diagnostiker) beigetragen und droht jetzt, wo Arbeitsgruppen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der American Psychiatric Association (APA) ICD-11 und DSM-V vorbereiten, ein vergleichbares „Desaster”? Wohl kaum. Die damalige Diskussion hat im Bereich der psychoanalytischen Psychosomatik die Entwicklung des multiaxialen Systems zur Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik [6] angestoßen, das die multiaxialen Ansätze von ICD-10 und DSM-IV um außerordentlich bedeutsame therapie- und outcomerelevante Merkmale ergänzt und zu bemerkenswerten Forschungsinnovationen geführt hat (vgl. [7] [8] [9]). Das ursprünglich von Rutter eingeführte multiaxiale System in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (vgl. [10]) ist mittlerweile ebenfalls durch einen operationalisierten psychodynamischen Ansatz [11] ergänzt worden. Schließlich wurde von der Weltgesundheitsorganisation 2001b die Internationale Klassifikation der Funktionsbeeinträchtigung, Behinderung und Gesundheit (ICF) eingeführt, die im Rahmen eines komplexen Modells das gesamte Spektrum von leichten Funktionsbeeinträchtigungen bis hin zu schweren Behinderungen abbilden soll [12]. Die mit ICD-10 und DSM-IV verbundene „Simplifizierung” der Diagnostik zu Gunsten der Reliabilität wurde also mit der Einführung komplexerer multiaxialer Systeme beantwortet, in denen die Kernklassifikationen nur eine Beschreibungsebene darstellen.

Brauchen wir vor diesem Hintergrund überhaupt noch ICD-11 und DSM-V? Die American Psychiatric Association hat bereits zum Einführungszeitpunkt des DSM-IV eine Antwort formuliert, in dem sie Quellentexte und Kommentare zu den diagnostischen Kategorien veröffentlichte und 2002 eine Research Agenda publizierte [13]. Gegenstand dieser Research Agenda waren nicht nur kritische diagnostische Kategorien, etwa im Bereich der sog. subsyndromalen Störungen, für die ein weiterer Forschungsbedarf angemahnt wurde, sondern auch prinzipielle Fragen, wie etwa das Verhältnis zwischen kategorialer und dimensionaler Diagnostik. Für verschiedene Störungsfelder wurden von der APA hierzu Arbeitsgruppen etabliert, die die Aufgabe übertragen bekamen, die Literatur fortlaufend zu erfassen und Feldstudien durchzuführen. Über den entsprechenden Entwicklungsprozess im Bereich der Suchterkrankungen berichtet Lutz G. Schmidt in diesem Heft [14], nachdem hierzu in den vergangenen Jahren auch im deutschsprachigen Raum verschiedene Anstrengungen unternommen wurden, diagnostische Leitlinien zu entwickeln (vgl. [15] [16]). Die WHO ging weniger systematisch vor, hat aber in der Zwischenzeit eine Reihe von Konferenzen durchgeführt und ist an der DSM-Entwicklung kollaborativ beteiligt (Informationen unter: www.who.int/entity/classifications/network/ICD-11...; [17]).

Der Hoffnung vieler Experten, dass zwischen beiden Systemen eine weitergehende Kompatibilität erreicht werden kann als bisher (vgl. [18]), ist verschiedentlich eine Absage erteilt worden [14] [19]. Dabei ist daran zu erinnern, dass es sich bei dem DSM um eine nationale Klassifikation handelt, und bei der ICD um einen internationalen Ansatz, der wiederum wesentlich auf umfassenden Konsultationsprozessen mit Regierungen, Kommissionen und Fachgesellschaften beruhen wird [14] [20].

Die bisher zugänglichen Publikationen der verschiedenen Arbeitsgruppen halten sich in Grenzen, so dass - abgesehen vom Suchtbereich, der in diesem Heft gewürdigt wird - wenig über die bevorstehenden Veränderungen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Nicht nur für den Bereich der Persönlichkeitsstörungen [21], sondern auch für die Klassifikation von Angststörungen, depressiven und Somatisierungsstörungen zeichnet sich ab, dass neben dem kategorialen Ansatz der Systeme auch dimensionale Modelle Anwendung finden werden. Dies schließt wahrscheinlich auch eine vermehrte Berücksichtigung sog. subsyndromaler Störungen mit ein, wie sie etwa in der ICD-10 mit den Kategorien der gemischten Angststörungen (F41.2 und F41.3) sowie der rezidivierenden kurzen depressiven Störungen (F38.10) bereits eingeführt wurden. Vor allem im Bereich der multiaxialen Diagnostik werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Ansätze vorgestellt, mit denen sich Gesundheitsressourcen erfassen lassen, die für den Verlauf und die Behandelbarkeit psychischer Störungen eine hohe Bedeutung aufweisen [22].

Wir dürfen also gespannt sein. Die WHO wird ihr Netzwerk von Zentren in Deutschland, das bereits bei der Einführung der klinisch-diagnostischen Leitlinien und der Forschungskriterien mitgewirkt hat ebenso wie die DGPPN einbeziehen. Mit endgültigen Versionen ist vermutlich nicht vor 2010 zu rechnen.

Literatur

  • 1 Saß H. Die Krise der psychiatrischen Diagnostik.  Fortschr Neurol Psychiat. 1987;  55 355-360
  • 2 Schneider W, Freyberger H J. Diagnostik in der Psychotherapie unter besonderer Berücksichtigung deskriptiver Klassifikationssysteme.  Forum der Psychoanalyse. 1990;  6 316-330
  • 3 Dilling H, Schulte-Markwart E, Freyberger H J. Von der ICD-9 zur ICD-10. Neue Ansätze der Diagnostik psychischer Störungen in der Psychiatrie, Psychosomatik und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bern: Huber
  • 4 Peters U H. Für und Wider ICD-10 Kapitel V.  Fortschr Neurol Psychiat. 2003;  71 115-117
  • 5 Freyberger H J. Warum brauchen wir die operationalisierte Diagnostik psychischer Störungen. Zur Diskussion.  Fortschr Neurol Psychiat. 2003;  71 478-479
  • 6 Arbeitskreis OPD .Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD-2). Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. Bern: Huber 2006
  • 7 Schauenburg H, Freyberger H J, Cierpka M, Buchheim P. OPD in der Praxis. Konzepte, Anwendungen, Ergebnisse der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik. Bern: Huber 1998
  • 8 Schneider W, Freyberger H J. Was leistet die OPD? Empirische Befunde und klinische Erfahrungen mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik. Bern: Huber 2000
  • 9 Dahlbender R W, Buchheim P, Schüssler G. Lernen an der Praxis. OPD und Qualitätssicherung in der Psychodynamischen Psychotherapie. Bern: Huber 2004
  • 10 Remschmidt H, Schmidt M, Poustka F. Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. Bern: Huber 2005 5. Auflage
  • 11 Arbeitskreis OPD-KJ .Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Grundlagen und Manual. Bern: Huber 2006 2. überarbeitete Auflage
  • 12 Seidel M. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Ein neues Mitglied der Familie WHO Klassifikationen.  Nervenarzt. 2005;  76 79-91
  • 13 Kupfer D J, First M B, Regier D A. A research agenda for DSM-V. Washington DC: American Psychiatric Association 2002
  • 14 Schmidt L G. Substanzbezogene Störungen: Auf dem Weg zu ICD-11 und DSM-V. Fortschr Neurol Psychiat 2006 74: 634-642
  • 15 Berner M M, Habbig S, Härter M. Qualität aktueller Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen. Eine systematische Übersicht und inhaltliche Analyse.  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 696-704
  • 16 Bonnet U, Harries-Hedder K, Leweke F M, Schneider U, Tossmann P. AWMF-Leitlinie: Cannabis-bezogene Störungen.  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 318-329
  • 17 Fulford K W. Values in psychiatric diagnosis: Executive summary of a report to the chair of ICD-12/DSM-VI Coordination task force.  Psychopathology. 2002;  35 132-138
  • 18 Freyberger H J, Stieglitz R D. Leitlinien zur Diagnostik in der Psychiatrie und Psychotherapie.  Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. 2005;  54 23-33
  • 19 Cooper J E. Prospects for Chapter V of ICD-11 and DSM-V.  Br J Psychiatry. 2003;  183 379-381
  • 20 Mezzich J E, Berganza C E. Purposes and models of diagnostic systems.  Psychopathology. 2005;  38 177-179
  • 21 Widiger T, Simonson E. Alternative models of personality disorder: finding a common ground.  Journal of personality Disorders. 2005;  19 110-130
  • 22 Mezzich J E. Positive health: conceptual place, dimensions and implications.  Psychopathology. 2005;  38 177-179

Prof. Dr. Harald J. Freyberger

Klinink und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald am Hanse-Klinikum Stralsund

Rostocker Chaussee 70

18437 Stralsund

Email: freyberg@uni-greifswald.de

    >