ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2006; 115(9): 355
DOI: 10.1055/s-2006-954593
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gerodontologie - die Herausforderung

Cornelia Gins
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
25. September 2006 (online)

Herr Müller kommt schon seit vielen Jahren in meine Praxis. Zu Beginn unserer Bekanntschaft war er ein rüstiger Mann, Anfang 60. Er trieb Sport und nahm aktiv am gesellschaftlichen Leben teil. Der erste Zahnersatz in Form einer festsitzenden Brücke wurde ohne Probleme akzeptiert. Herr Müller kam regelmäßig. Der eine oder andere Zahn ging mit der Zeit verloren, sodass ein kombinierter Zahnersatz im Gegenkiefer dazu kam. Die Mundpflege war gut, den Zahnersatz konnte er ohne Probleme handhaben. In der letzten Zeit kam Herr Müller unregelmäßig. Inzwischen fast 80-jährig, hat ihn Immobilität durch Krankheit von den Besuchen bei mir abgehalten. Das letzte Mal als ich ihn sah, war die Mundpflege schlecht, einige Zähne abgebrochen und den Zahnersatz konnte er nicht mehr richtig einsetzen, da Hände und Augen ihre Funktion eingebüßt hatten.

Diese Situation kommt Ihnen sicher vertraut vor. Wer seinen Beruf schon lange ausübt und, so wie ich, eine kleine Praxis für die ganze Familie führt, betreut seine Patienten oft bis ins hohe Alter. Ich bin immer wieder erschüttert, wie schnell ein Patient aus großer Aktivität und Selbstverantwortung in eine körperliche und geistige Malaise fallen kann. Das ist die eine Seite der Medaille.

Die andere Seite beschreibt ewige Jugend. Unsere Gesellschaft ist sich zwar des alten bzw. alternden Menschen inzwischen bewusst, aber irgendwie doch nicht wirklich. Nach wie vor gelten Spuren des Älterwerdens als Katastrophe. Es wird suggeriert, dass Lebenslust nur ohne Falten, mit einem straffen Körper und, bezogen auf die Zahnmedizin, mit festen weißen Zähnen zu erhalten ist Mit dem verständlichen Wunsch nach Letzterem werden wir nun zunehmend konfrontiert. Die Anfragen nach Implantaten nehmen stetig zu. Wissenschaft und Praxis können inzwischen guten Gewissens diese Versorgung gerade auch für den älteren Patienten empfehlen. In den Augen unserer Patienten bekommt der Zahnarzt nun plötzlich eine ganz neue Funktion. Prothesen haben nur alte Leute, so der Gedankengang. Die Patienten erwarten von uns, dass mit Hilfe moderner Zahnmedizin das Altern aufgehalten werden kann.

In meiner Brust schlagen nun 2 Herzen: Auf der einen Seite ist totale Zahnlosigkeit heutzutage gottlob kein unabwendbares Schicksal mehr, und Dank der modernen Medizin ist fast alles möglich. Auf der anderen Seite zeigt meine Erfahrung, wie schnell Pflegebedürftigkeit mit allen hygienischen Problemen eintreten kann. Der Anspruch der Patienten ist hoch, und auf uns kommt eine ganz neue Verantwortung zu: der Spagat zwischen dem medizinisch Machbaren und dem individuell Möglichen.

Dr. med. dent. Cornelia Gins

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