Fragestellung: Im letzten Jahr konnten wir auf dieser Tagung einen Ansatz zur „Messung der Teilhabestörung
nach SGB IX“, der sich an ICD und ICF anlehnt, vorstellen [1]. Er basiert nicht wie
die ICF auf dem Ordnungsprinzip der Klassifikation, sondern auf dem modernen Ordnungsprinzip
der Begriffskombination [2] und erlaubt eine unscharfe Gradierung, die einerseits
dem ärztlichen Denken eher entspricht und anderseits für eine Veränderungsmessung
besser geeignet ist als die lediglich fünfstufige Skala der ICF-Beurteilungsmerkmale.
Am Beispiel des ICF-Core-Sets „Rückenschmerzen“ [3] haben wir unseren Ansatz mit dem
der ICF-Core-Sets verglichen.
Methodik: Betrachtet wurde hier nur der Funktions-, Aktivitäts- und Partizipationsanteil aus
dem Arztfragebogen des Core-Sets, da der Patientenfragebogen überwiegend generische,
d.h. nicht indikationsspezifische, Items aus dem WHODAS-II sowie dem SF-36 enthält.
Die Körperstrukturen sind in unserer Deskriptorenliste in Anlehnung an die ICD recht
detailliert vorhanden, während das Core-Set nur 5 große Strukturen (Rückenmark, Beckenregion,
untere Extremitäten, Rumpf, weitere musko-skelettale Strukturen) als Oberbegriffe
unterscheidet. Ferner wurde bei unserer Deskriptorenliste auf die Berücksichtigung
der Kontextfaktoren verzichtet, so dass sich ein Vergleich erübrigt. Es verbleiben
damit für die Gegenüberstellung 48 Items aus dem Core-Set und 79 unserer Deskriptoren
aus den Bereichen Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe. Von diesen 79 Deskriptoren
haben 45 Entsprechungen im Core-Set, während von den 48 Items immerhin 44 eine Entsprechung
in der Deskriptorenliste aufweisen. Wir gehen von einer Entsprechung aus, wenn der
gleiche Sachverhalt bzw. ein Ober- oder Unterbegriff im jeweils anderen Instrument
vorhanden ist. Zum Beispiel gibt es bei der Muskelkraft eine 1:1-Übereinstimmung:
im Core-Set ist das Item „Funktionen der Muskelkraft“ (b730) enthalten, in der Deskriptorenliste
der Deskriptor „MUK=Muskelkraft“ (b730). In einigen wenigen Fällen haben wir auch
auf verschiedenen Achsen liegende Items als 1:1-Übereinstimmung gewertet, z.B. „Sexuelle
Funktionen“ (b640) und „INT=Intime Beziehungen“ (d770). Hin- und wieder ist das eine
Instrument spezifischer als das andere, so dass keine 1:1-Übereinstimmung, sondern
eine Oberbegriff-Unterbegriffbeziehung besteht. So unterscheidet die Deskriptorenliste
etwa „BTV=Beschäftigung Vollzeit“ (d8501) und „BTZ=Beschäftigung Teilzeit“ (d8502),
während im Core-Set beides im zugehörigen Oberbegriff „Bezahlte Tätigkeit“ (d850)
zusammengefasst ist. Lediglich für vier Items aus dem Core-Set fand sich keine Entsprechung:
„Sich auf andere Weise fortbewegen (Robben, Hüpfen, Springen, ...)“ (d455), „Funktionen
der Beweglichkeit der Knochen“ (b720), „Funktion von Temperament und Persönlichkeit“
(b126) sowie „Funktionen der psych. Energie und des Antriebs“ (b130). Grundlage für
den Vergleich bilden die Daten von 67 Patienten aus der Machbarkeitsstudie, denen
als einziges Gesundheitsproblem der Deskriptor LS (Lumbalsyndrom/Kreuzschmerz, 25
Patienten) bzw. LIA (Lumboischialgie, 42 Patienten) zugeteilt wurde und die somit
zur Zielgruppe des Core-Sets „Rückenschmerzen“ gehören. In dieser Subpopulation wurden
von den 79 in Betracht kommenden Deskriptoren 40 bei 350 Zuteilungen verwendet.
Ergebnisse: 68% der Deskriptoren und 70% der Zuteilungen haben Entsprechungen im Core-Set. Der
etwas höhere Anteil der Entsprechungen bei den Zuteilungen weist darauf hin, dass
bei den häufiger zugeteilten Deskriptoren sich etwas öfter eine Entsprechung im Core-Set
findet als bei den seltener genutzten. Für 16 Deskriptoren (40,0%) gibt es eine direkte
Entsprechung im Core Set, diese decken mit 173 Zuteilungen 49,4% aller Deskriptoren-Zuteilungen
ab. Für 11 weitere Deskriptoren (27,5%) findet sich ein Oberbegriff im Core-Set, diese
decken mit 72 Zuteilungen weitere 20,6% aller Deskriptoren-Zuteilungen ab. Für 13
Deskriptoren (32,5%) gab es keine Entsprechung, dies betrifft mit 105 Deskriptoren-Zuteilungen
die verbleibenden 30,0% aller Deskriptoren-Zuteilungen.
Diskussion: Mit 70% der Nennungen deckt das ICF-Core-Set einen guten Anteil der Deskriptorenzuteilungen
ab. Die verbleibenden 30,0% zeigen aber auch, dass der Arzt bei individueller Zuteilung
mehr Spielraum braucht und auch nutzt, als ihn ein notwendigerweise beschränktes ICF-Core-Set
bieten kann. Mit durchschnittlich 5,2 zugeteilten Deskriptoren pro Patient verläuft
die Dokumentation und die Festlegung der Reha-Ziele schneller und effektiver als bei
Abarbeitung der entsprechenden 48 Items des Core-Sets. Zudem erlaubt unser Ansatz
durch die Festlegung weniger zu dokumentierender Sachverhalte eine Fokussierung auf
das relevante und zielorientierte Ergebnismessung. Bis auf die 4 nicht enthaltenen
Items aus dem Core-Set ließen sich also alle Informationen einschließlich der fünfstufigen
Skala der ICF-Beurteilungsmerkmale in unserem Deskriptorensystem ausdrücken. Da die
Deskriptorenliste deutlich kürzer und aufgrund der mnemonischen Drei-Letter-Codes
für den Arzt leichter zu erlernen ist, schlagen wir ihre Verwendung in der Praxis
vor.
Literatur:
1 Jacobi E, Leitner A, Kaluscha R: Die Messung der Teilhabestörung nach SGB IX: Eine
Multicenterstudie zur Machbarkeit. 110. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft
für Physikalische Medizin und Rehabilitation (DGPMR), 13. –15.10.2005 in München
2 Gaus W: Dokumentation und Ordnungslehre. Berlin: Springer; 2003
3 http://www.icf-research-branch.org/research/eular.htm