Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2006; 16 - A41
DOI: 10.1055/s-2006-954343

Messung der Teilhabestörung mittels unscharf gradierter Deskriptoren im Vergleich mit ICF-Core-Sets

R Kaluscha 1, A Leitner 1, E Jacobi 1
  • 1Forschungsinstitut für Rehabilitationsmedizin an der Universität Ulm, Bad Wurzbach

Fragestellung: Im letzten Jahr konnten wir auf dieser Tagung einen Ansatz zur „Messung der Teilhabestörung nach SGB IX“, der sich an ICD und ICF anlehnt, vorstellen [1]. Er basiert nicht wie die ICF auf dem Ordnungsprinzip der Klassifikation, sondern auf dem modernen Ordnungsprinzip der Begriffskombination [2] und erlaubt eine unscharfe Gradierung, die einerseits dem ärztlichen Denken eher entspricht und anderseits für eine Veränderungsmessung besser geeignet ist als die lediglich fünfstufige Skala der ICF-Beurteilungsmerkmale.

Am Beispiel des ICF-Core-Sets „Rückenschmerzen“ [3] haben wir unseren Ansatz mit dem der ICF-Core-Sets verglichen.

Methodik: Betrachtet wurde hier nur der Funktions-, Aktivitäts- und Partizipationsanteil aus dem Arztfragebogen des Core-Sets, da der Patientenfragebogen überwiegend generische, d.h. nicht indikationsspezifische, Items aus dem WHODAS-II sowie dem SF-36 enthält. Die Körperstrukturen sind in unserer Deskriptorenliste in Anlehnung an die ICD recht detailliert vorhanden, während das Core-Set nur 5 große Strukturen (Rückenmark, Beckenregion, untere Extremitäten, Rumpf, weitere musko-skelettale Strukturen) als Oberbegriffe unterscheidet. Ferner wurde bei unserer Deskriptorenliste auf die Berücksichtigung der Kontextfaktoren verzichtet, so dass sich ein Vergleich erübrigt. Es verbleiben damit für die Gegenüberstellung 48 Items aus dem Core-Set und 79 unserer Deskriptoren aus den Bereichen Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe. Von diesen 79 Deskriptoren haben 45 Entsprechungen im Core-Set, während von den 48 Items immerhin 44 eine Entsprechung in der Deskriptorenliste aufweisen. Wir gehen von einer Entsprechung aus, wenn der gleiche Sachverhalt bzw. ein Ober- oder Unterbegriff im jeweils anderen Instrument vorhanden ist. Zum Beispiel gibt es bei der Muskelkraft eine 1:1-Übereinstimmung: im Core-Set ist das Item „Funktionen der Muskelkraft“ (b730) enthalten, in der Deskriptorenliste der Deskriptor „MUK=Muskelkraft“ (b730). In einigen wenigen Fällen haben wir auch auf verschiedenen Achsen liegende Items als 1:1-Übereinstimmung gewertet, z.B. „Sexuelle Funktionen“ (b640) und „INT=Intime Beziehungen“ (d770). Hin- und wieder ist das eine Instrument spezifischer als das andere, so dass keine 1:1-Übereinstimmung, sondern eine Oberbegriff-Unterbegriffbeziehung besteht. So unterscheidet die Deskriptorenliste etwa „BTV=Beschäftigung Vollzeit“ (d8501) und „BTZ=Beschäftigung Teilzeit“ (d8502), während im Core-Set beides im zugehörigen Oberbegriff „Bezahlte Tätigkeit“ (d850) zusammengefasst ist. Lediglich für vier Items aus dem Core-Set fand sich keine Entsprechung: „Sich auf andere Weise fortbewegen (Robben, Hüpfen, Springen, ...)“ (d455), „Funktionen der Beweglichkeit der Knochen“ (b720), „Funktion von Temperament und Persönlichkeit“ (b126) sowie „Funktionen der psych. Energie und des Antriebs“ (b130). Grundlage für den Vergleich bilden die Daten von 67 Patienten aus der Machbarkeitsstudie, denen als einziges Gesundheitsproblem der Deskriptor LS (Lumbalsyndrom/Kreuzschmerz, 25 Patienten) bzw. LIA (Lumboischialgie, 42 Patienten) zugeteilt wurde und die somit zur Zielgruppe des Core-Sets „Rückenschmerzen“ gehören. In dieser Subpopulation wurden von den 79 in Betracht kommenden Deskriptoren 40 bei 350 Zuteilungen verwendet.

Ergebnisse: 68% der Deskriptoren und 70% der Zuteilungen haben Entsprechungen im Core-Set. Der etwas höhere Anteil der Entsprechungen bei den Zuteilungen weist darauf hin, dass bei den häufiger zugeteilten Deskriptoren sich etwas öfter eine Entsprechung im Core-Set findet als bei den seltener genutzten. Für 16 Deskriptoren (40,0%) gibt es eine direkte Entsprechung im Core Set, diese decken mit 173 Zuteilungen 49,4% aller Deskriptoren-Zuteilungen ab. Für 11 weitere Deskriptoren (27,5%) findet sich ein Oberbegriff im Core-Set, diese decken mit 72 Zuteilungen weitere 20,6% aller Deskriptoren-Zuteilungen ab. Für 13 Deskriptoren (32,5%) gab es keine Entsprechung, dies betrifft mit 105 Deskriptoren-Zuteilungen die verbleibenden 30,0% aller Deskriptoren-Zuteilungen.

Diskussion: Mit 70% der Nennungen deckt das ICF-Core-Set einen guten Anteil der Deskriptorenzuteilungen ab. Die verbleibenden 30,0% zeigen aber auch, dass der Arzt bei individueller Zuteilung mehr Spielraum braucht und auch nutzt, als ihn ein notwendigerweise beschränktes ICF-Core-Set bieten kann. Mit durchschnittlich 5,2 zugeteilten Deskriptoren pro Patient verläuft die Dokumentation und die Festlegung der Reha-Ziele schneller und effektiver als bei Abarbeitung der entsprechenden 48 Items des Core-Sets. Zudem erlaubt unser Ansatz durch die Festlegung weniger zu dokumentierender Sachverhalte eine Fokussierung auf das relevante und zielorientierte Ergebnismessung. Bis auf die 4 nicht enthaltenen Items aus dem Core-Set ließen sich also alle Informationen einschließlich der fünfstufigen Skala der ICF-Beurteilungsmerkmale in unserem Deskriptorensystem ausdrücken. Da die Deskriptorenliste deutlich kürzer und aufgrund der mnemonischen Drei-Letter-Codes für den Arzt leichter zu erlernen ist, schlagen wir ihre Verwendung in der Praxis vor.

Literatur:

1 Jacobi E, Leitner A, Kaluscha R: Die Messung der Teilhabestörung nach SGB IX: Eine Multicenterstudie zur Machbarkeit. 110. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation (DGPMR), 13. –15.10.2005 in München

2 Gaus W: Dokumentation und Ordnungslehre. Berlin: Springer; 2003

3 http://www.icf-research-branch.org/research/eular.htm