Zeitschrift für Palliativmedizin 2006; 7 - P10_3
DOI: 10.1055/s-2006-954196

Die Tradition der häuslichen Aufbahrung – Wann und aus welchen Gründen brach dieser Brauch ab?

L Bertram 1, M Weber 2, W Kümmel 3
  • 1Krankenhaus St. Josef, Innere Abteilung, Rüdesheim am Rhein
  • 2Interdisziplinäre Einrichtung für Palliativmedizin, III. Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Mainz
  • 3Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Einleitung: Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es vielerorts üblich, Verstorbene über mehrere Tage zu Hause aufzubahren. Angehörige, Freunde und Nachbarn konnten persönlich und in Ruhe Abschied nehmen. Heutzutage sind die Erinnerungen an diesen ehemals vertrauten Brauch verblasst und geraten immer weiter in Vergessenheit. Ziel der Arbeit war es, die wichtigsten Elemente einer häuslichen Aufbahrung und der Überführung des Leichnams zum Friedhof zu erfassen, den zeitlichen Abbruch der Tradition einzugrenzen sowie Gründe für deren Ende zu finden. Methoden: Mittels eines strukturierten Fragebogens wurden Personen, die sich an eine selbst miterlebte Hausaufbahrung erinnerten, befragt. Die Interviews fanden aufgrund persönlicher Kontakte in den Gemeinden Mainz-Bretzenheim (Rheinhessen) und Rüdesheim-Eibingen (Rheingau) statt. Innerhalb eines Jahres (Dezember 1997 bis Dezember 1998) konnten jeweils 45 Personen befragt werden. Resultate: In Bretzenheim konnten insgesamt 69, in Eibingen 133 Fälle häuslicher Aufbahrungen in die Auswertung der Daten einbezogen werden. Die Befragungen ergaben ein reiches Brauchtum in beiden Gemeinden, das in Bretzenheim 1942 und in Rüdesheim-Eibingen 1962 jeweils nahezu abrupt abbrach. Nach Meinung der Bretzenheimer bedingten gesundheitliche und soziale Gründe (Bevölkerungswachstum, enge Wohnverhältnisse, mangelnde Hygiene etc.) das Ende des Brauchtums. Die Interviewten aus Eibingen vermuteten neue gesetzliche Bestimmungen als Ursache. Tatsächlich führte in beiden Gemeinden ein geänderter Rechtsstatus zum Traditionsabbruch. Die Gesetzeslage verpflichtete die Betroffenen zur Nutzung der neu errichteten Leichenhallen auf den beiden Ortsfriedhöfen. Obwohl eine häusliche Aufbahrung auch nach der heute geltenden Rechtslage durchaus für 36 Stunden möglich wäre, wurde sie von der Mehrheit der Befragten als nicht mehr zeitgemäß angesehen. Schlussfolgerung: Hausaufbahrungen, so fremdartig der Brauch den jüngeren Generationen heute vielleicht erscheinen mag, gehörten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zum normalen Alltag. Rechtliche Gründe führten zur Aufgabe dieser Tradition.