Zeitschrift für Palliativmedizin 2006; 7 - P9_2
DOI: 10.1055/s-2006-954186

Grundeinstellung zur aktiven Sterbehilfe im Vergleich zwischen Deutschen und niederländischen Medizinstudierenden – Eine Comperative Studie

C Schulz 1, J Grunert 1, M Ilboga 1, S Linke 1, R van Zijderveld 1, R Ernst 1
  • 1Universität Witten/Herdecke

Einleitung: Ziel war die Evaluation der Grundeinstellung von Medizinstudierenden gegenüber aktiver Sterbehilfe und Identifikation mögliche Unterschiede zwischen der deutschen und niederländischen Kohorte. Methoden: Die Stichprobe setzte sich aus Medizinstudierenden (1. Jahr bis Praktisches Jahr/final year) von acht Universitäten in den Niederlanden und sechs Universitäten in Deutschland, Nordrhein-Westfalen zusammen. Die Teilnehmer wurden durch individuelle E-Mails über ihre jeweiligen Fakultäten zur Teilnahme an der Studie eingeladen. Die Studierenden wurden mit einem von Helou et al. entwickelten Fragebogen nach ihrer Einschätzung von acht häufig verwendeten pro und kontra Argumenten der Sterbehilfe-Debatte befragt, mussten elf Kriterien zur Entscheidungsfindung bewerten und abschließend zehn Fallbeispiele beurteilen [1]. Erhebungsinstrument war ein zugangsbeschränkter bilingualer Online-Fragebogen (deutsch/niederländisch), mit dem durch Selbsteinschätzung die Grundeinstellung gegenüber aktiver Sterbehilfe in drei Kategorien (Argumente, Kriterien zur Entscheidungsfindung, Fallbeispiele) erfasst wurde (www.palliative-research.de). Die Skalen (5-Punkt-Likert-Skala mit zusätzlicher Antwortoption „möchte ich nicht beantworten“) des Fragebogens wurden mittels Faktorenanalyse überprüft. Um eine dezidiertere Aussage über die Entscheidungskriterien erhalten zu können, wurden mittels Faktorenmatrixberechnung vier Faktoren aus den elf Entscheidungskriterien extrahiert. Die Unterschiede zwischen deutschen und niederländischen Studenten wurden mittels t-Test auf Signifikanz überprüft. Die Voraussetzungen für eine Varianzanalyse waren nicht gegeben. Die Auswirkungen des Antwortverhaltens unter „Grundeinstellung“ und „Kriterien in der Entscheidungsfindung“ auf das Entscheidungsverhalten bei den Fallbeispielen wurden mittels linearer Regression erfasst. Resultate: 805 Studierende nahmen im April 2003 an unserer Studie teil (603 Niederländer [74,91%], 202 Deutsche [25,09%]). Die Geschlechterverteilung war in beiden Kohorten ausgeglichen (NL: 245 m/358 w [40,6 vs. 59,4%]; D: 110 m/92 w [54,5 vs. 45,5%]). Vorherige Erfahrung mit Sterbeprozessen von Patienten oder eigenen Familienangehörigen wurde von der Mehrheit in beiden Gruppen angegeben. (NL: 76,5 vs. 23,5%; D: 85,1 vs. 14,9%). Wir konnten einen statistisch signifikanten Unterschied in der Grundeinstellung, mit einer höheren Akzeptanz von aktiver Sterbehilfe unter den niederländischen Medizinstudierenden, im Vergleich zu ihren deutschen Kommilitonen feststellen (p<0,001). Die Faktoren „wenig Lebensqualität“ und „nahender Tod“ waren in beiden Gruppen die wichtigsten Aspekte für ihre Entscheidungsfindung. Der Faktor „Behinderung“ spielte für niederländische Medizinstudierende eine weniger bedeutende Rolle als für die deutschen Studierenden (p<0,001). Schlussfolgerung: Die an der Studie beteiligten niederländischen Medizinstudierenden befürworteten aktive Sterbehilfe mehr als die deutschen Medizinstudierenden. Die Ergebnisse dieser Studie entsprechen interessanterweise den Unterschieden in der Rechtssprechung zur aktiven Sterbehilfe beider Länder. Ob die Grundeinstellung eine Konsequenz aus der Rechtslage oder vielmehr die Basis für Veränderungen ist, kann mit dieser Studie nicht beantwortet werden. Obwohl die teilnehmenden deutschen Medizinstudierenden aktive Sterbehilfe mehrheitlich ablehnen, ist weiterhin unklar, wie diese Einstellung entsteht. Ein klares rechtliches, medizinisches und ethisches Verständnis von aktiver Sterbehilfe sowie der Haltung der Palliativmedizin scheint wesentlich für die Entwicklung einer informierten Arztpersönlichkeit zu sein. Qualifizierte Lehre in medizinischer Ethik und Palliativmedizin sollte im Medizinstudium verstärkt werden.