Zeitschrift für Palliativmedizin 2006; 7 - V4_1
DOI: 10.1055/s-2006-954085

Entscheidungswege zum Umgang mit Chemotherapie am Lebensende

N Frickhofen 1
  • 1Klinik für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin, HSK, Dr. Horst Schmidt Klinik, Wiesbaden

Chemotherapie wird in der Palliativmedizin häufig skeptisch beurteilt. Die Argumentation ist nachvollziehbar: Chemotherapie zielt in der zugelassenen Indikation meist auf die Beeinflussung von Tumorwachstum und auf die Verlängerung von Lebenszeit. Nebenwirkungen werden dabei von Therapeuten kalkuliert in Kauf genommen, was dem Primat von Symptomverhinderung, -kontrolle und Erhalt von Lebensqualität in der Palliativmedizin zu widersprechen scheint. Dabei wird häufig nicht gesehen, dass bei vielen fortgeschrittenen Tumorerkrankungen der Erfolg einer Chemotherapie primär an der Symptomkontrolle gemessen wird. Bei bestimmten Symptomen kann Chemotherapie die beste Methode der Symptomkontrolle sein, z.B. bei allgemeinem Krankheitsgefühl, Schwitzen oder Juckreiz durch ein Lymphom oder einen stark proliferierenden soliden Tumor, bei Beschwerden durch rezidivierende, nicht lokal behandelbare Ergüsse, bei Schmerzen durch nicht bestrahlbare, raumfordernde Metastasen oder bei Symptomen durch Tumorinfiltration der Hirnhäute. Mit den neuen molekular gezielten Therapien wird sich dieses symptomkontrollierende Potenzial von „Chemotherapie“ eher noch erweitern. Bei entsprechender Fachkunde gelingt die Abwägung zwischen positiven und negativen Wirkungen einer Chemotherapie Monate bis Jahre vor dem Lebensende meist gut. Mit der Annäherung an das Lebensende wird die Entscheidung schwieriger. Folgende systematischen Fragen helfen, zu einer patientengerechten Einschätzung zu kommen: (1) Liegt tatsächlich eine terminale Situation vor? Es kommt leider immer wieder vor, dass einem schwerst symptomatischen, wenig vorbehandelten Tumorpatienten in Unkenntnis guter Erfolgsaussichten einer Chemotherapie die Chance einer guten Symptomkontrolle und Wiederherstellung guter Lebensqualität durch eine Chemotherapie vorenthalten wird. (2) Gibt es eine auf den Tumor zielende Therapie, bei der die Aussichten auf eine Symptomkontrolle die Gefahr von Nebenwirkungen überwiegt, und wird der Patient dies voraussichtlich erleben? Chemotherapie braucht bei fortgeschrittenen Erkrankungen mindestens 1–2 Monate, um positive Wirkungen zu entfalten. Diese Zeit haben viele Patienten nicht. (3) Was will der Patient? Ist er ausreichend über die Chancen und Risiken einer Chemotherapie und die ihm verbleibende Zeit informiert? Patienten haben nicht selten falsche Vorstellungen von Chemotherapie. Es ist z.B. wichtig ihnen zu verdeutlichen, dass selbst bei Wirksamkeit der Chemotherapie dieser positive Effekt in späten Phasen der Erkrankung nahezu immer nur wenige Wochen anhält. In den meisten Fällen werden sich informierte Patienten kurz vor dem Lebensende gegen eine Chemotherapie entscheiden, entweder wegen zu geringer Erfolgsaussichten oder wegen der begrenzten Zeitspanne, in der nur Nebenwirkungen und keine Wirkung zu erwarten sind. Es ist Aufgabe des Palliativmediziners, dem Patienten Zugang zu valider Informationen als Grundlage für eine solche Entscheidung zu beschaffen.