Zeitschrift für Palliativmedizin 2006; 7 - V1_4
DOI: 10.1055/s-2006-954063

Trauer und Depression

C Paul 1
  • 1Trauerinstitut Deutschland, im Zentrum für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Bonn-Hardberg

Trotz diagnostischer Kriterien, die den Unterschied zwischen der Erkrankung „Depression“ und einem natürlichen Trauerprozess deutlich machen, werden die beiden häufig verwechselt. Dies gilt für körperlich gesunde ebenso wie für schwerkranke Menschen, es wird davon ausgegangen, dass über die Hälfte aller depressiv erkrankten Menschen nicht rechtzeitig erkannt werden und dass wiederum über die Hälfte aller in Behandlung befindlichen depressiv erkrankten Menschen keine ausreichende Behandlung erfahren. Das Ziel, Menschen während einer palliativen Behandlung optimale Versorgung auch in Hinsicht auf ihre psychosoziale Situation zu gewährleisten, kann dazu führen, dass – anders als bei körperlich gesunden Menschen – hier häufiger eine Depression diagnostiziert wird als nötig. Eine mit Medikamenten oder Psychotherapie behandlungsbedürftige mittlere bis schwere Depression tritt bei Schwerkranken nicht häufiger auf als bei körperlich gesunden Menschen, die meisten Schätzungen gehen von 5% ernsthaft depressiv Erkrankten (major depression nach DSM-III-R) in der Gesamtbevölkerung aus. Symptomähnlichkeiten zum Trauerprozess gibt es nur bei leichten depressiven Episoden, die meist von allein abklingen. Insbesondere antidepressive medikamentöse Behandlungen blockieren natürliche Trauerprozesse, die für die Anpassung und Verarbeitung fortschreitender Verluste im Krankheitsverlauf wichtig sind. Psychotherapeutische Interventionen sollten von einer klaren Diagnose ausgehen. Bei einer schweren Depression spielt neben der medikamentösen Behandlung der Symptome wie Antriebslosigkeit, Empfindungslosigkeit und Suizidgefahr die Verhaltenstherapie eine wichtige Rolle. Dagegen stehen bei einem Trauerprozess weniger die Behandlung und Linderung von Trauerverhalten wie intensive Gefühle von Kummer, Wut, Schuld oder Verzweiflung, Nachdenken über Sinnfragen und Lebensbilanzierung im Mittelpunkt als vielmehr das Mittragen und Ermutigen dieser zunächst als unangenehm wahrgenommenen Gefühle und Gedanken. Trauer als natürlicher Prozess führt durch diese emotionalen und kognitiven Krisen hindurch zu einem vertieften Verständnis der veränderten Realität. Solange Menschen bereit und in der Lage sind, sich diesen Veränderungen und den durch sie ausgelösten Krisen zu stellen, brauchen sie eher mitmenschliches Einfühlungsvermögen und Geduld als fachliches Eingreifen. Erst die Weigerung, die mit Abschieden und Verlusten verbundenen Gefühle zu fühlen und die für eine tiefe Depression typische andauernde „gefühlte Gefühllosigkeit“, machen das ärztliche Handeln notwendig. Trauerprozesse und leichte depressive Episoden sind durch Familie und Freundeskreise sowie ehrenamtliche HelferInnen optimal zu unterstützen. Erst die Entwicklung einer schweren Depression, gegebenenfalls mit psychotischen Symptomen, die nur bei ca. 5% der schwerkranken PatientInnen zu erwarten ist, erfordert Interventionen in Form von Medikamentengabe und gezielter Psychotherapie.