PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(1): 97-99
DOI: 10.1055/s-2006-951996
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zum Gedenken an Klaus Grawe

Steffen  Fliegel, Armin  Kuhr
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Publikationsdatum:
13. März 2007 (online)

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Am 3.11.2006 wurde in Zürich das Klaus-Grawe-Institut für Psychologische Therapie eröffnet. Wie Dr. Mariann Grawe-Gerber und lic. phil. Barbara Heiniger-Haldimann, die Leiterinnen des Instituts, in ihrer Festrede mitteilten, wollte Klaus Grawe nie eine Therapieschule gründen. Daher ist folgerichtig das Anliegen des Instituts, nicht Erkenntnisse zu bewahren, sondern sie orientiert am empirischen Forschungsstand weiterzuentwickeln und das Denken in Therapieschulen zu überwinden. Das Institut wurde neben der heutigen Leitung auch von Klaus Grawe vor vielen Jahren unter dem Namen „Institut für Psychologische Therapie” mitgegründet und wird nun zu seinem Gedenken mit seinem Namen weitergeführt. Das Institut (www.klaus-grawe-institut.ch) hat sich als Aufgabe gesetzt, „maßgeschneiderte Psychotherapie auf hohem wissenschaftlichen Niveau anzubieten, Psychologinnen und Psychologen, Ärzte und Ärztinnen zu Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auszubilden und Forschung zur Verbesserung Psychologischer Therapie zu betreiben”.

Barbara Heiniger-Haldimann und Mariann Grawe-Gerber.

Dietmar Schulte, Silvia Schneider, Urs Baumann und Kurt Hahlweg.

Franz Caspar und Dieter Vaitl.

Hansjörg Znoj.

PD Dr. Martin Grosse-Holtforth stellte die im Juli 2005 in Zürich gegründete „Klaus-Grawe-Stiftung zur Förderung der Psychotherapieforschung” vor. Die Stiftung bezweckt die Förderung der Psychotherapieforschung zur Verbesserung der Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen und Störungen und zur Prävention solcher Probleme und Störungen; dabei können insbesondere innovative und interdisziplinäre Forschungsprojekte mit Preisen, Stipendien, Forschungsbeiträgen und/oder Auszeichnungen unterstützt werden (Stiftungsadresse: Klaus-Grawe-Institut für Psychologische Therapie, Großmünsterplatz 1, CH-8001 Zürich).

Am 4.11.2006 fand in Aula und Audimax der Universität Bern das wissenschaftliche Gedenksymposium „Zukunft der Psychotherapie” für Klaus Grawe statt, der am 10.7.2005 plötzlich und unerwartet gestorben ist und eine große Lücke in der Psychotherapie hinterlassen hat. Viele KollegInnen und Wegbegleiter, Studierende und Freunde waren versammelt, um Klaus Grawe noch einmal Reverenz zu erweisen[1].

In seinen einleitenden Worten gab Prof. Norbert Semmer, der Dekan der Fakultät, den Rahmen vor, als er sagte, dass es darum gehe, die Gedanken von Grawe weiterzuentwickeln und nicht „in der Exegese zu erstarren”, da Grawe für das Infragestellen von etablierten „Wahrheiten” stand. Die Veranstaltung solle deutlich machen, dass es nicht darum gehen kann, seine Arbeit linear fortzuschreiben, sondern dass ein zukunftsorientierter wissenschaftlicher Diskurs geführt werden bzw. angestoßen werden soll, der die Entwicklung des Faches durch ständiges kritisches Überprüfen des aktuellen Kanons vorantreibt.

Prof. Dietmar Schulte von der Universität Bochum, der in seinem Beitrag den beruflichen Lebensweg von Klaus Grawe skizzierte („Klaus Grawe: Auf dem Weg zu einer psychologischen Therapie”), nahm diesen Gesichtspunkt auf, indem er aus einem Interview zitierte, das PiD mit Grawe etwa ein halbes Jahr vor dessen plötzlichem Tod geführt hatte: „Es ist eine offene Frage, wie die Psychotherapie am besten weiterentwickelt werden könnte” (Psychotherapie im Dialog 6, Heft 2/2005; www.klaus-grawe-institut.ch) - eine Aussage, die er immerhin nach 35 Jahren Psychotherapieforschung machte. Er habe es als „eine Art von Befreiung (erlebt), an nichts glauben zu müssen.” An anderer Stelle des Interviews: „Ich habe keinen glaubenden, sondern einen wissbegierigen Bezug zur Psychotherapie.” Grawe machte es weder sich, noch den BerufskollegInnen leicht, da er mit gelegentlich atemberaubendem Tempo an der Weiterentwicklung der Psychotherapie arbeitete. Schulte fasste dies prägnant zusammen, indem er sagte, dass er mit einem neuen Ansatz kam, bevor man seinen aktuellen Ansatz richtig verstanden hatte. Grawe bekräftigte dies kurz vor seinem Tod mit der Aussage, dass er alle paar Jahre ganz neue Antworten gebe.

Ein wichtiger Gesichtspunkt bei seiner Entwicklung und der späteren Schwerpunktsetzung in der Forschung war die Tatsache, dass Grawe nicht die universitäre „Ochsentour” absolvierte, sondern den Ruf an die Universität Bern erhielt, bevor seine Habilitation abgeschlossen war. In seinen beruflich formativen Jahren in der Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf fand er, wie Schulte ausführte, ideale Arbeitsbedingungen vor, bei denen er Psychotherapieforschung und Praxis verknüpfen konnte. Die wissenschaftliche Arbeit war immer auf den psychotherapeutischen Alltag bezogen, was dazu führte, dass er lange Zeit bei den PraktikerInnen bessere Resonanz fand als bei seinen KollegInnen an den Universitäten. Sein Weg führte von der Plananalyse über die Schematheorie zur Inkonsistenz, dabei immer wieder auf Begriffe und Konstrukte der Grundlagenforschung zurückgreifend - unter Vermeidung der Diktion von Therapieschulen (Wegmarken: 1986 Schematheorie und Heuristische Psychotherapie, 1988 Prozessanalyse, therapeutische Wirkfaktoren, 1998 Konsistenztheorie, ab 2000 experimentelle Variationen zur Verbesserung von Therapiemotivation und therapeutischer Ressourcenaktivierung, 2004 Neuropsychotherapie, 2005 empirische Untersuchungen zur Neuropsychotherapie, ein Ansatz der aktuell in reduzierter Form weitergeführt wird).

Grawes Angriffe gegen das „Schulenkartell” führten Ende der 90er-Jahre zu Feindseligkeiten, die sich bei einer Gelegenheit sogar in körperlichen Angriffen entluden. Offensichtlich verletzte er vitale (vermutlich ökonomische) Interessen von etablierten Vertretern des „Systems”. Auch wenn sich die Debatte in den letzten Jahren deutlich versachlicht hat, blieb Grawe bis zu einem gewissen Grade im deutschsprachigen KollegInnen-Kreis ein „enfant terrible”.

Dietmar Schulte beendet seinen beeindruckenden und auch sehr emotionalen Vortrag mit den Worten: Sein Weg „ist ein bewundernswert stetiger Weg, es ist ein Weg, der stetig weiterführt und uns in vielem zu einem besseren Verständnis von Psychotherapie geführt hat. Es ist ein Weg, auf den er sehr viele mitgenommen hat, vor allem viele Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis. Kein Psychotherapieforscher kann für sich in Anspruch nehmen, ein solches Gehör in der Praxis gefunden zu haben. Die Forderung nach einer allgemeinen Psychotherapie kommt heute fast weniger aus der Forschung als aus der Praxis. Ist das Ziel erreicht?” „Nie ist das letzte Wort gesprochen” - sagt Klaus Grawe in dem PiD-Interview.

Prof. Hansjörg Znoj („Geschichtliches zur Praxisstelle”), der derzeitige Lehrstuhlvertreter in Bern, zeichnete die Entwicklung der universitären „Praxisstelle” nach. Sie begann 1980 mit der Einführung erster qualitätssichernder Maßnahmen (Messmittel zur Erfassung des Therapieerfolgs), die sich mittlerweile auch in Deutschland vielfach etabliert haben. Die Diagnostik war und ist sehr aufwendig. Im Standardverfahren werden neben den Eingangsinterviews Fragebogen mit insgesamt ca. 800 Items eingesetzt. Seit 1986 wird die „Figurationsanalyse” durchgeführt, mit deren Hilfe den PsychotherapeutInnen die Effekte der Therapie auf verschiedenen Dimensionen „optisch” zurückgemeldet werden können. 1992 wurde ein postgradualer Studiengang eingeführt.

Prof. Walter Perrig („Das Unbewusste in der Psychotherapie”) vom Institut für Psychologie der Universität Bern referierte über Bewusstes im Aufbau und in der Nutzung von Erfahrung. In einem eindrucksvollen Überblick skizzierte er Aspekte des Unbewussten und setzte sie in Relation zum Bewusstsein. Er stellte eine Theorie zum Bewusstsein und Unbewussten vor, ein Modell, das er als „Version zum Korrigieren” bezeichnete. Dann erörterte er Bewusstsein und Unbewusstes in der Erlebnis- und Verhaltenssteuerung (reflektives Handeln, intuitives Entscheiden, reflektives Verhalten). Perrig skizzierte Forschungsprojekte, die erhellen sollten, wie Unbewusstes „funktioniert” (implizites Gedächtnis, implizites Lernen, Intuition). Von besonderem Interesse waren seine Schlussfolgerungen: Unbewusstes bestimmt erkennen und erleben, aktiviert und strukturiert Bedeutung, nutzt vergessene Erfahrung, erfasst Invarianz und begründet Intuition.

Die therapierelevanten Implikationen seiner Überlegungen sieht Perrig darin, dass in Therapie (und Training) durch gezielte Interventionen frühe unbewusste Prozesse der Assoziation, der Konditionierung, der Bahnung (Priming), der Habituation und der Aktivierungsausbreitung manipuliert werden, um damit unbewusstes Geschehen und in der Folge auch das Erleben, Wissen und Erinnerungen zu verändern. Perrig schlägt „explizites Semantik-Training und implizites evaluatives Konditionieren in einem computerunterstützten Mentaltraining von jeweils kurzer Dauer (fünf bis zehn Minuten)” vor. Einzusetzen wäre es zur Ergänzung von Expositionstherapie bei der Depressionsbehandlung oder der Integration und Vernetzung von traumatischen Erinnerungen bzw. zur Veränderung des autobiografischen Gedächtnisses.

Prof. Jürgen Margraf („Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie”) von der Universität Basel bemängelte, dass es keinen Beipackzettel für Psychotherapie gibt. Die Psychotherapieentwicklung ist so in Bewegung wie nie zuvor. So wird alle fünf Stunden ein Beitrag zu Depressionen entwickelt. Warnungen? Fehlanzeige. Nebenwirkungen von Psychotherapie lassen sich ableiten von Hinweisen auf Erfolglosigkeit, durch Behandlungsfehler und durch Schädigung durch unethisches therapeutisches Verhalten. Margraf fordert für angemessene und Erfolg versprechende Psychotherapie auf therapeutischer Seite drei Standbeine: Alltagserfahrung, Berufserfahrung und Wissenschaft, die nicht austauschbar sind.

Prof. Kurt Hahlweg („Prävention kindlicher Verhaltensstörungen - ein Beitrag zur Senkung der Inzidenzrate psychischer Störungen”) von der Universität Braunschweig stellte in seinem sehr nachdenklich machenden Beitrag (einer gemeinsamen Arbeit mit Dr. Nina Heinrichs) internationale epidemiologische Studien vor, die zeigen, dass fast 20 % aller Kinder und Jugendlichen in einem Untersuchungszeitraum von sechs bis zwölf Monaten klinisch bedeutsame Verhaltensauffälligkeiten wie Ängste, Depressionen und vor allem aggressives Verhalten, oppositionelles Trotzverhalten und hyperkinetische Störungen aufweisen. Dies wurde in Deutschland repliziert und bedeutet, dass in der Bundesrepublik Deutschland ca. 2 000 000 Kinder im Alter von ein bis 15 Jahren durch Störungen mit hoher Persistenz betroffen sind, insbesondere durch Ängste und Störungen des Sozialverhaltens. Hauptursachen: sexueller Missbrauch (6 %), psychische Vernachlässigung (15 %), körperliche Misshandlungen (mehr als 20 %).

Präventive Interventionen sollten daher bereits früh im Kindesalter einsetzen, da sich eine Behandlung chronifizierter Störungen in der klinischen Praxis als schwierig erweise, auch wenn es durchaus starke Therapieeffekte in Forschungsstudien gebe. Präventionsprogramme können danach unterschieden werden, auf welche dieser Risikofaktoren sie direkt Bezug nehmen. So gibt es universelle Programme, die auf die Allgemeinbevölkerung abzielten, selektive Programme mit Schwerpunkt bei Individuen oder Subgruppen mit erhöhtem Risiko für die zukünftige Entwicklung einer psychischen Störung und indizierte Programme, die auf Individuen mit prodromalen Zeichen oder Frühsymptomen einer psychischen Störung fokussieren. Hahlweg stellte Eltern-Trainingsprogramme mit ihren Vor- und Nachteilen vor und belegte deren Effektivität. Übrigens: Wenn gegen delinquentes Verhalten Jugendlicher in präventive Maßnahmen ein Euro investiert wird, lassen sich später sieben Euro einsparen.

In einem eher grundsätzlich angelegten Beitrag diskutierte Prof. Meinrad Perrez („Dilemmas einer wissenschaftlich fundierten Psychotherapie”) von der Universität Fribourg Forschungsdilemmata in der Psychotherapie. Die randomisierte Kontrollgruppen-Strategie mache Voraussetzungen (Homogenität und Randomisierung der Patientengruppen mit möglichst homogenen Diagnosen, manualisierte und integre Behandlung, eher kurze Behandlungsdauer, valide Messverfahren, valide Diagnostik), die nur mit erheblichen Einschränkungen gegeben sind. Perrez plädierte dafür, bei der zukünftigen ESP-Forschung („empirically supported psychotherapies”) veränderte Schwerpunkte zu berücksichtigen: verstärkte Orientierung am DSM, Berücksichtigung moderner psychodiagnostischer Methoden, Lockerung des Treatment-Bezuges, Einbeziehung der Ätiologie der Störungen, häufigerer Einsatz kontrollierter Versuchsanordnungen im Feld statt Manualisierung im herkömmlichen Sinn, Orientierung der Therapie an „Guidelines” auf der Ebene kausal begründeter Prinzipien und schließlich die stärkere Erforschung therapeutischer Lernprozesse.

Prof. Franz Caspar („Das kriegen wir schon hin - Überlegungen zur therapeutischen Beziehung”) von der Universität Genf sprach zum Thema der psychotherapeutischen Beziehung. Caspar stellte angelaufene und abgeschlossene Studien vor, welche das Thema der komplementären Beziehungsgestaltung und ihrer Wirkung auf den Therapieerfolg untersuchten. Es gibt erste, recht gut belegte Hinweise, dass Veränderungen in der Psychotherapie dann am wahrscheinlichsten sind, wenn Sicherheit und Herausforderung ausbalanciert sind. Aus der Perspektive der Wirkfaktoren nach Grawe sollten Ressourcenaktivierung (u. a. positive Erfahrungen im Sinne wichtiger Bedürfnisse) und Problemaktivierung (Arbeit an Problemen mit emotionaler Aktivierung) gleichermaßen realisiert werden. Dies ist dann am besten möglich, wenn die TherapeutInnen authentisches Interesse und Wertschätzung, verbunden mit Optimismus und Unterstützung in die Beziehung einbringen. „Das kriegen wir schon hin”, diese Worte von Klaus Grawe strahlten seinen Optimismus und seine Zuversicht aus.

Aber, und diese Frage blieb auch nach den Vorträgen im Raum: Wer kann und wer wird in der Lage sein, die Integrationsleistung von Klaus Grawe zu erbringen bzw. fortzuführen?

1 Es wird an dieser Stelle nur über einige Beiträge auf dem Symposium berichtet. Die Veröffentlichung aller wissenschaftlichen Beiträge ist in einer Klaus Grawe gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift der DGVT „Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 1-2007” geplant.

1 Weitere Beiträge: Prof. Urs Baumann: Leitbilder der Psychotherapieforschung und -praxis: Spurensuche; Prof. Dirk Hellhammer: Neuropattern - ein psychobiologisches Werkzeug zur Diagnostik stressbezogener Gesundheitsstörungen; Prof. Dieter Vaitl: Grenzüberschreitungen: Neurobiologie veränderter Bewusstseinszustände?