Zeitschrift für Phytotherapie 2006; 27(4): 193-195
DOI: 10.1055/s-2006-951592
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Interview
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Interview - »Das Potenzial ist da, um aus diesen Pilzen Arzneimittel zu machen«

Ulrike Lindequist1
  • 1Institut für Pharmazie der Universität Greifswald, Leiterin des Bereichs Pharmazeutische Biologie und zurzeit geschäftsführende Direktorin des Instituts für Pharmazie.
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. Dezember 2006 (online)

ZPT:

Warum interessieren Sie sich ausgerechnet für Pilze?

Ulrike Lindequist:

Ich bin vor etwa 25 Jahren zu den Pilzen gekommen, als der damalige Chef der Klinik für Innere Medizin zu meinem damaligen Chef kam und über einen Patienten berichtete. Dieser litt unter allergisch bedingten Gefäßwanderkrankungen - Thromboangitis obliterans -, sodass er nicht laufen konnte, wenn die Erkrankung hoch ausgeprägt war. Gleichzeitig war der Patient aber begeisterter Pilzsammler. Und immer, wenn er einen bestimmten Pilz aß, ging es ihm besser, konnte er wieder Treppen steigen und so fort. Mein damaliger Chef wurde also gefragt, ob er nicht mal nachschauen wollte, was an diesem Pilz dran war. Ich war damals nach einem Erziehungsurlaub gerade wieder in die Universitätsarbeit eingestiegen, fand die Frage spannend und begann damit, mich mit diesem Pilz näher zu beschäftigen. Daraus wurde letztlich meine Habilitation. Der Pilz hieß Pappelritterling - Tricholoma populinum, der auch tatsächlich immunsuppressiv wirksame Verbindungen enthält.

ZPT:

Und heute?

Ulrike Lindequist:

Ich bin der Meinung, dass Pilze ein mindestens ebenso großes Potenzial zur Produktion von bioaktiven Verbindungen, die für den Menschen als Arzneimittel oder auch für andere Zwecke von Bedeutung sein könnten, haben wie höhere Pflanzen. In der asiatischen Medizin gibt es eine sehr lange Tradition der Anwendung von Pilzen. In der europäischen Medizin ist diese Tradition verlorengegangen. Im Mittelalter war das noch anders, da spielten auch einige europäische Pilze eine große Rolle. Der zweite Gesichtspunkt ist der Blick in die mikroskopisch kleinen Pilze. Die wichtigsten Antibiotika werden ja von Penicillium-Arten erzeugt. Verglichen mit der Forschung im Bereich der mikroskopisch kleinen Pilze wurden die großen Pilze, die Basidiomyceten, lange Zeit von der Forschung vernachlässigt. Großpilze wurden als Speise- oder Giftpilze erforscht, aber nicht als medizinisch wirksame Pilze.

ZPT:

Irgendwo habe ich gelesen, dass der im Gletscher gefundene »Ötzi« auch Pilze bei sich hatte...

Ulrike Lindequist:

Ja, das ist ein schönes Beispiel: Er hatte Pilze an einer Kette aufgefädelt, u.a. den Birkenporling. Man nimmt an, dass er sie als Arzneimittel mitgeführt hat. Man weiß heute vom Birkenporling Piptoporus betulinus, dass er durchaus therapeutische Eigenschaften hat, zum Beispiel bei Magenbeschwerden. Aber auch hier wäre noch viel Forschungsarbeit zu leisten.

ZPT:

Spannend, dass Pilze das Immunsystem gleichzeitig unterdrücken und stimulieren können!

Ulrike Lindequist:

Ich spreche lieber von immunmodulierenden Wirkungen, weil das Immunsystem so komplex ist. Das heißt: Abhängig von der Dosis oder auch vom untersuchten Organismus können unterschiedliche Effekte auftreten. Bei den Immunstimulatoren, die wir aus Pilzen kennen und die auch in einigen Präparaten verwendet werden, kommen großmolekulare Substanzen zum Einsatz, vor allem Polysaccharide. Diese dürften tatsächlich in erster Linie immunstimulierend wirken. Immunsuppressiv wirken eher kleinere Moleküle. Aber auch da gibt es Beispiele - denken Sie an Ciclosporin, eines der wichtigsten Immunsuppressiva - das ist ein kleineres Peptid und stammt auch von Pilzen ab, aber eben nicht von den Großpilzen, sondern von mikroskopischen Pilzen.

Abb. 1 Piptoporus betulinus - der Birkenporling; man vemutet, dass »Ötzi«, die Gletschermumie vom Tisenjoch, ihn als Heilpilz verwendet hat

ZPT:

Immunstimulierend sollen ja diverse Produkte wirken. Ich finde es schwierig, einen Maßstab für eine nützliche Stimulation zu definieren. Höhere Anzahl der NK-Zellen? Höhere Aktivität der NK-Zellen oder der Makrophagen? Was ist für Sie Kennzeichen einer nützlichen Immunstimulation?

Ulrike Lindequist:

Das ist genau das Problem. Wir können in vitro vielfältige Effekte im Immunsystem zeigen. Erhöhung der Aktivität der NK-Zellen, vermehrte Zytokinfreisetzung oder gesteigerte Phagozytosefähigkeit. Wie sich das dann in vivo im Gesamtorganismus tatsächlich auswirkt, ist ganz schwer nachzuweisen. Bei der Mistel ist das ähnlich. Es gibt viele Studienhinweise und Einzelbeobachtungen, aber gesicherte Studien, die zum Beispiel eine Verlängerung der Überlebensrate zeigen würden, sind nach wie vor Mangelware. Was man gezeigt hat, ist eine Verbesserung der Lebensqualität, aber auch das ist natürlich schwer messbar.

ZPT:

Bei den Pilzen gibt es ja auch Studien, die eine verbesserte Lebensqualität zeigen. Sehen Sie das eher als Plazeboeffekt an?

Ulrike Lindequist:

Natürlich greift ein schwer krebskranker Patient nach jedem Strohhalm und eine Plazebowirkung wäre ja auch nicht negativ zu bewerten. Aber alle diese Überlegungen zeigen, dass mehr und den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechende Studien durchgeführt werden müssten. Das nächste Problem ist natürlich, dass solche Studien finanziert werden müssen.

ZPT:

Führen Sie hier Studien durch?

Ulrike Lindequist:

Ja, aber keine klinischen Studien. Wir haben eine große Stammsammlung auch von terrestrischen Pilzen, kultivieren das Myzel im Fermenter und haben dann die Möglichkeit, verschiedene biologische In-vitro-Systeme zu nutzen. Wir führen also Untersuchungen an Zellkulturen unterschiedlicher Art durch und prüfen zum Beispiel auf antibakterielle, antifungale und antivirale Effekte. Wir prüfen auf zytostatische Effekte auch gegen Tumorzellen und haben die Möglichkeit, Untersuchungen an Immunzellen durchzuführen, also zu testen, ob wir immunstimulierende oder immunsuppressive Effekte finden. An humanen Knochenzellen kann man zum Beispiel mögliche Osteoporoseschutzwirkungen von Pilzen nachweisen, dazu ist zurzeit eine Publikation in Vorbereitung. An humanen Hautzellen können wir zeigen, ob Wirkstoffe aus Pilzen einen UV-Schutz besitzen oder die Regenerationsfähigkeit von Zellen verbessern, die durch UV-Strahlen geschädigt wurden.

Und wir haben auch die Möglichkeit, chemisch-analytisch zu arbeiten. Wir versuchen aus Extrakten, die wir als wirksam erkannt haben, die für die Wirkung verantwortlichen Substanzen zu isolieren und deren Struktur aufzuklären. Besonders intensiv beschäftigen wir uns mit Ganoderma pfeifferi. Dieser mit Ganoderma lucidum eng verwandte europäische Pilz wurde bisher kaum untersucht, besitzt aber aus unserer Sicht mindestens genauso bemerkenswerte Eigenschaften wie der viel verwendete Reishipilz.

Abb. 2 Ganoderma pfeifferi, der Kupferrote Lackporling, ist Forschungsobjekt im Institut für Pharmazie der Universität Greifswald

ZPT:

Gibt es eine grundsätzliche Erklärung für die Vielfalt von Wirkungen der Medizinalpilze?

Ulrike Lindequist:

Ich denke, dass man einige der Wirkungen auf Grund der Lebensweise der Pilze in der Natur erklären kann, sicherlich nicht alle. Am leichtesten lassen sich die antimikrobiellen Wirkungen erklären. Die Pilze leben in einer sehr stark kontaminierten Umwelt und müssen sich im Abwehrkampf mit Mikroorganismen auseinandersetzen. Aus diesem Grund produzieren sie antimikrobielle und antifungale Metabolite. Es ist interessant und aus meiner Sicht bisher viel zu wenig untersucht, ob es Unterschiede zwischen Myzel und Fruchtkörper gibt. Wenn man von unserer Hypothese ausgeht, müsste im Myzel deutlich mehr Wirkstoff vorhanden sein, weil das Myzel viel länger im Boden überlebt und sich mehr mit seiner Umwelt auseinandersetzt als die kurzlebigen Fruchtkörper.

Andere Wirkungen wie Blutzuckersenkung oder Blutdrucksenkung - das scheint mir keine ökologische Funktion zu haben, das ist eher Zufall. Ein schönes Beispiel übrigens. Die gesamte Gruppe der Statine geht ja ursprünglich von Pilzen aus. Lovastatin ist ein Produkt aus mikroskopischen Pilzen.

ZPT:

Stichwort Qualitätskontrolle?

Ulrike Lindequist:

Hier ist noch viel Arbeit zu leisten. Die Präparate, die bisher auf dem Markt sind, sind nicht als Arzneimittel zugelassen. Im therapeutischen Bereich befinden sich die Nahrungsergänzungsmittel oder bilanzierten Diäten immer ein bisschen in einer gesetzlichen Grauzone. Andererseits ist das Potenzial da, um aus diesen Pilzen richtige, zugelassene Arzneimittel zu machen. Wenn das der Fall wäre, müssten die Pilze die üblichen Anforderungen an Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität erfüllen. Das ist meines Erachtens heute bei vielen Präparaten nicht gegeben. Kommt das Präparat aus dem Fruchtkörper, dem Myzel, den Sporen? Wo kommt der Fruchtkörper her, wird er gesammelt oder kultiviert? Ist in der Kapsel ein Extrakt, ein Pilzpulver oder eine Mischung? Wie sieht die Belastung mit Pestiziden und Schwermetallen aus? Auf welche Wirkstoffe soll standardisiert werden, auf Polysaccharide allgemein, auf Glukane? Hier fehlten methodische Arbeiten und Qualitätsstandards. Wir haben vor, eine Promotion zu den Qualitätsfragen anzugehen. Das Interesse der Pilzhersteller dafür ist da. Eine Firma hat uns bereits Proben zur Verfügung gestellt und auch eine finanzielle Unterstützung zugesagt, aber wir sind noch auf der Suche nach weiteren Förderern.

ZPT:

Welche Rolle spielt eigentlich die Tatsache, dass die orale Bioverfügbarkeit von Lentinan nicht besonders gut ist?

Ulrike Lindequist:

Das ist kein Wunder: die großen Moleküle können nun mal nicht besonders gut über die Darmschleimhaut resorbiert werden. Hier ist unsere Hypothese, dass die Immunzellen im Darm, die Peyerschen Plaques, primär stimuliert werden und dieser Stimulus sich ausbreiten kann. Untersuchungen an den Polysacchariden aus Echinacea haben uns auf diese Hypothese gebracht. Schon die Immunzellen im Mund werden stimuliert, die wichtigste Rolle scheinen aber die im Darm zu haben. Ich könnte mir vorstellen, dass es bei den Polysacchariden aus den Pilzen ähnlich ist.

ZPT:

Sehen Sie Risiken?

Ulrike Lindequist:

Die Jahrtausende alte Erfahrung in der Anwendung spricht für die Unbedenklichkeit der Pilze. Auch wenn Shiitake zu Hautreaktionen führen kann.

ZPT:

Wenn Sie den Blick in die Glaskugel werfen: Was stellen Sie sich als besonders erfolgreiche oder in Zukunft wichtige Eigenschaft von Pilzen vor?

Ulrike Lindequist:

Ich würde es gerne sehen und halte es auch für am aussichtsreichsten, dass auch die niedermolekularen Wirkstoffe stärkere Beachtung finden. Die Polysaccharide werden sicher im Gespräch bleiben. Da sollten jedoch nach unseren Maßstäben angelegte klinische Studien durchgeführt werden. Das halte ich für essentiell. Aber auch solche kleineren Moleküle, die gereinigt und nachsynthetisiert werden können, werden hoffentlich eine größere Bedeutung erlangen. Die Gruppe der Strobilurine sind niedermolekulare Wirkstoffe aus Strobilurus-Arten (Nagelschwamm). Sie gehören mittlerweile zu den wichtigsten Wirkstoffen im Agrarbereich, sie werden angewandt gegen Pilzkrankheiten in der Landwirtschaft. Die Firma BASF hat sie weiterentwickelt, der Marktanteil ist nicht klein. In solchen Bereichen sehe ich große Erfolgsaussichten, auch was die gesetzlichen Voraussetzungen angeht.

Das Interview führte Ruth Auschra.

Prof. Dr. rer. nat. Ulrike Lindequist

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