Zentralbl Gynakol 2006; 128 - A31
DOI: 10.1055/s-2006-950531

Problematik der Verwahrlosung – „Frühe Hilfen“

JC Möller 1
  • 1Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Perinatalzentrum, Klinikum Saarbrücken

Internationale Untersuchungen zeigen, dass Folgen von schweren Störungen der kindlichen Entwicklung wie psychischer und physischer Verwahrlosung (Neglect) und Misshandlung (Abuse) nachhaltig durch frühe extrafamiliäre Betreuung, Hilfe, aufsuchende Erziehungs- und Gesundheitsbetreuung gebessert werden können. Eine inzwischen über 40 Jahre nachverfolgte, randomisierte Studie in der Stadt Ypsilanti, Michigan, USA, bei Kindern aus komplexem sozialen Problemmilieu zeigte nachhaltig positive Ergebnisse. Die Interventionsgruppe wurde täglich über mehrere Stunden pädagogisch und medizinisch außerfamiliär unterstützt, die Kontrollgruppe bekam keine Hilfen. Es zeigte sich anhaltend über 40 Jahre in der Interventionsgruppe eine signifikant geringere Rate an Delinquenz und psychiatrischen Erkrankungen bei besserem Einkommen und höherem Bildungsstand. Zudem wurde gezeigt, dass die Investitionen selbst mit 5 Stunden Betreuung pro Tag sich nachhaltig lohnen (ein investierter Dollar bringt 11 Ersparnis). Diese Ergebnisse haben zu ähnlichen Projekten auch in Deutschland Anlass gegeben. In Hannover werden durch die Hebammen schon Risikomütter identifziert und dann in ein Betreuungsprogramm bis zum Schulalter der Kinder eingeschleust (läuft schleppend an). In Düsseldorf werden in den Geburtskliniken Risikofamilien nach einem Score identifiziert, der leicht zu Diskriminierungen z.B. alleinerziehender Mütter führt.

Projekt: In Saarbrücken haben wir in einer Projektgruppe aus Frauenklinik (Ärzte, Neugeborenenschwestern, Hebammen), Kinderklinik (Neonatologen, Koordinatorin: Oberärztin der Neonatologie), Jugend- und Gesundheitsamt des Stadtverbandes zunächst aus Erfahrungen der letzten Jahre die These aufgestellt, dass ein großer Teil der Risikofamilien, in denen es zu o.g. Verwahrlosung und Misshandlung (insbesondere auch schon im 1. Lebensjahr) kommt, in der Geburtsklinik identifiziert werden kann. Das Projekt wird mit Eigeninitiative und Mitteln der beteiligen Institutionen durchgeführt, eine nur ideelle Förderung durch das Gesundheitsministerium besteht.

Intervention: Schwestern, Ärzte oder Hebammen, die in Gesprächen den Eindruck haben, dass die Eltern nicht mit der weiteren Betreuung der Kinder klar kommen, informieren die Koordinatoren. Es wird mit den Eltern gesprochen und Ihnen der Vorschlag einer Hilfe durch Sozialmedizinische Assistentinnen (SMA) des Gesundheitsamtes in Form regelmäßiger (mindestens 1–2 mal pro Woche) Besuche und Beratungen gemacht. Diese aufsuchende Hilfe ist völlig freiwillig. Wenn sich wirklich herausstellt, dass eine Betreuung durch die Eltern langfristig nicht möglich ist und sich Risiken für Verwahrlosung und Misshandlung konkreter zeigen wird das Jugendamt eingeschaltet. Regelmäßige Teambesprechungen im der Schweigepflicht unterliegenden Kreis (Ärzte beider Kliniken, Hebammen, Ärzte des jugendärztlichen Dienstes und SMA) beraten konkret über die Entwicklung der Kinder in den Familien. Im Kreis mit dem Jugendamt werden die Fälle entweder anonym besprochen oder im Interesse der Kinder dann die Anonymität gebrochen. Wir rechnen aufgrund anderer Ergebnisse mit 1–2% aller geborenen Kinder, die diese Hilfe angeboten bekommen. Ein Jahr nach Beginn der aufsuchenden Hilfe erfolgt eine wissenschaftliche Auswertung durch die Kinderklinik (med. und psychologische Entwicklung).

Bisherige Ergebnisse: 20 Mütter und Väter wurden angesprochen. Keine Mutter (Vater) lehnt das Angebot ab, es wurde im Gegenteil zumeist freudig begrüßt. 4 Kinder sind inzwischen nicht mehr in ihren Familien. Es stellte sich heraus, dass 14 Familien, ohne das es die Kliniken wussten jugendamtsbekannt waren. Dies ist m.E. ein Zeichen dafür, dass die Risikofamilien in der Geburtsklinik identifizierbar sind. Problematisch ist ohne zusätzliche Finanzierung die Zahl der Besuche so zu erhöhen wie es alle Beteiligten für erforderlich halten. Obwohl das Projekt nur das Klinikum Saarbrücken als Geburtsklinik betrifft, kommen wir schnell an die Grenzen der personellen Möglichkeiten.

Fazit: Risikofamilien für Verwahrlosung und Misshandlung von Kindern sind identifizierbar, die aufsuchende Betreuung durch SMA ist ohne zusätzliche Finanzierung nicht dauerhaft möglich. Ein großer Teil von Kindern kann so in ihrer Familie verbleiben.