Gesundheitswesen 2006; 68 - A73
DOI: 10.1055/s-2006-948629

Historische Entwicklung der Gesundheitsberichterstattung in Deutschland

J Kuhn 1
  • 1Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Oberschleißheim

Hintergrund: Die moderne Gesundheitsberichterstattung in Deutschland beginnt in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein wichtiger Impuls dabei war das Gutachten des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen 1987. Interessanterweise ist die reichhaltige Vorgeschichte der Gesundheitsberichterstattung in Deutschland weitestgehend vergessen. Es gibt in der Literatur dazu nur einige wenige selektive Darstellungen. Der Vortrag stellt Befunde einer Recherche zur Geschichte der Gesundheitsberichterstattung in Deutschland vor. Ziel: Die Betrachtung der historischen Entwicklung soll dabei helfen, die Ausformung der gegenwärtigen Gesundheitsberichterstattung besser zu verstehen. Darüber hinaus will der Beitrag zu einer vertieften fachhistorischen Aufarbeitung des Themas ermuntern. Methoden: Gesichtet wurden Materialien aus der regionalhistorischen Forschung über die Physikatsberichte in Bayern im 19. Jahrhundert, Rechtsgrundlagen und erläuternde Darstellungen über die Jahresgesundheitsberichte in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus sowie zentrale Dokumente zum Aufbau der Gesundheitsberichterstattung aus den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ergebnisse: Der Beginn der Gesundheitsberichterstattung im Sinne einer Verpflichtung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes zu einer regelmäßigen Berichterstattung ist bereits im 18. Jahrhundert zu verorten. Aufschlussreiches Material liegt Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Physikatsberichten vor, die in der Tradition der medizinischen Topographien stehend, vielfältige Informationen zur Lebenssituation der Bevölkerung liefern. Anfang des 20. Jahrhunderts ist eine zunehmende Standardisierung und inhaltliche Verarmung der Berichterstattung anhand vorgegebener Formblätter festzustellen, bis hin zu einer Reduktion der Berichterstattung auf weitgehend nutzlose medizinalstatistische Tabellenwerke in der frühen Bundesrepublik. Letzteres steht in engem Zusammenhang mit der Situation der Sozialmedizin insgesamt nach deren Pervertierung und Diskreditierung durch „rassenhygienisches“ Denken. Diskussion: Die Geschichte der Gesundheitsberichterstattung ist in mehrfacher Hinsicht lehrreich. Sie lässt Veränderungen der Funktion der Gesundheitsberichterstattung, der Form der Berichterstattung und der Adressaten der Berichterstattung erkennen – und gibt Aufschluss über die Voraussetzungen für eine je nach den historischen Zielsetzungen „relevante“ Gesundheitsberichterstattung. Schlussfolgerungen: Am Beispiel etwa des Endes der Physikatsberichte mit dem Aufkommen der Bakteriologie oder der folgenlosen und ritualisierten Medizinalstatistik der Nachkriegszeit zeigt sich nicht zuletzt, dass die Relevanz der Gesundheitsberichterstattung recht eng mit der Existenz einer aktiv intervenierenden Sozialmedizin verbunden ist.