Neuropediatrics 2006; 210 - V09
DOI: 10.1055/s-2006-946291

Welche Kriterien und Wertvorstellungen spielen bei ethisch schwierigen Behandlungsentscheidungen in der Neonatologie eine Rolle? – Ergebnisse einer empirischen Studie

M Peters 1, S Anderweit 1, C Heinritz 1, C Hick 1, C Licht 1, K Bergdolt 1, B Roth 1
  • 1Universität zu Köln, Köln, D

Fragestellung: Häufig stehen Mitarbeiter neonatologisch-pädiatrischer Intensivstationen vor dem Problem der verantworteten Therapieentscheidung. Oft müssen unter Zeitnot und starkem äußeren Druck ethisch schwierige Therapieentscheidungen getroffen werden. Vor diesem Hintergrund wird im Rahmen der Studie untersucht, welche Kriterien und Wertvorstellungen solchen Entscheidungen zugrunde liegen.

Methode: Mit neonatologisch tätigen Ärzten und Pflegenden sowie mit betroffenen Eltern wurden narrative, leitfadengestützte Interviews zu ihren Erfahrungen mit schwierigen Therapieentscheidungen durchgeführt. Die Interviews (n=22, Stand 1/06) wurden digital aufgezeichnet, transkribiert und in Anlehnung an die „Grounded Theory“ (Erhebungs-/Textanalyseverfahren n. Glaser, Strauss 1998) analysiert.

Ergebnisse: Die Entscheidungen um die Fortführung, Reduzierung oder den Abbruch einer kurativen Therapie bei schwerstkranken Früh- und Neugeborenen beruhen in der Regel auf der Beurteilung drei zentraler Kriterien: (1) Lebensqualität des Kindes, (2) “Willen“ des Kindes und (3) Willen der Eltern. (1) Zur Einschätzung der Lebensqualität werden u.a. die Prognose des Krankheitsbildes, die Lebenserwartung, der zu erwartende Grad der Behinderung, die Entwicklungsfähigkeit, der Grad der dauerhaften Abhängigkeit von intensiven Therapien, die Fördermöglichkeiten und die Belastbarkeit der Familie abgewogen. (2) Häufig sind Ärzte/Pflegende überzeugt, den “Willen“ des Kindes mithilfe von Beobachtung, Erfahrung und Empathie erfassen zu können. Ärzte wie Pflegende sehen sich in einer Fürsprecherrolle und vertreten die Interessen des Kindes gegenüber Dritten (z.T. auch Eltern). Zugleich übernehmen sie eine Beraterfunktion für die Eltern, (3) deren Wille letztendlich ausschlaggebend ist. Es kommt auch vor, dass Ärzte/Pflegende sich in erster Linie als Fürsprecher der Eltern sehen und deren Interessen vertreten. Insbesondere die beruflichen und biographischen Erfahrungen (z.B. Outcome ähnlicher Fallkonstellationen, Schlüsselerlebnisse, eigene Erkrankung/Behinderung) bestimmen die Gewichtung der Faktoren im Entscheidungsprozess. Obwohl den Teilnehmern bewusst ist, dass im Grunde weder die Lebensqualität noch der kindliche Wille fremdeingeschätzt werden können, wird eben dieses versucht in der Überzeugung, nur so zu einer richtigen Entscheidung gelangen zu können. Kommen die Beteiligten im Abgleich mit ihren individuellen Wertvorstellungen (z.B. Intaktheit der Familie/elterlichen Beziehung, glückliches Leben, Abwesenheit von Leid) zu dem Ergebnis, dass eine Fortführung der Therapie “um jeden Preis“ nicht sinnvoll ist, wird ein “Sterben lassen“ des Kindes akzeptiert. Es wird betont, dass es den richtigen Zeitpunkt für eine Therapiebegrenzung gibt.

Schlussfolgerung: Eine Behandlungsentscheidung aufgrund individueller Kriterien und Werte wird, obwohl schwer zu realisieren, einer Entscheidung nach Richtwerten vorgezogen, um der Einzigartigkeit jedes einzelnen Kindes gerecht zu werden.