Aktuelle Dermatologie 2006; 32(11): 490-495
DOI: 10.1055/s-2006-944876
Kleine Kulturgeschichte der Haut
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Literarische Narben: Auf dermatologischer Spurensuche in der Weltliteratur

Literary Scars: Dermatological Traces in LiteratureN.  Greiner
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Publication Date:
14 November 2006 (online)

Im 13. Buch der Odyssee erwacht der Held nach nächtlicher Fahrt auf heimatlichem Boden. Von Athene erfährt er die näheren Umstände der Bedrohung seines Hauses, dem er sich listig in der Gestalt eines Bettlers nähert. Er bleibt für alle unerkannt. Selbst Penelope erkennt in dem „Bettler”, der sie auf die Rückkehr des Odysseus vorbereitet, den Gatten nicht wieder. Nur der Hund Argos spürt hinter der angenommenen Maske die wahre Identität seines alten Herrn auf. Der „Blick” des Menschen, auch aus dem intimsten Familienkreis, trügt und wird von vorgetäuschter Identität in die Irre geführt. Der Text spitzt damit eine Frage zu, die das Epos in allen seinen Episoden durchgespielt und in den mannigfaltigen Facetten des Problems ausgelotet hat: Die „Suche” - symbolisch gestaltet in der Irrfahrt - nach den Wurzeln des Ich wirft die entscheidende Frage nach dem Wesen des Selbst und der Anderen, nach dem Ver- und Entbergen von Identität auf. Im gegenwärtigen wissenschaftlichen Jargon lautet die erste Frage: Wie kann sich eine Person in der Gemeinschaft anderer inszenieren, wie kann sie ihrerseits die gesellschaftliche Inszenierung von Wirklichkeit durchschauen und beeinflussen, wie kann man sich in der Welt „verorten”.

Literatur

  • 1 Homer . Odyssee. Griechisch und Deutsch. Übertr. von Anton Weiher. 11. Auflage.  Düsseldorf; Artemis & Winkler 2000
  • 2 Auerbach E. Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946).  Bern; Francke 1988: 8
  • 3 Mead G H. Mind, Self, and Society: From the Standpoint of a Social Behaviorist (Hrsg. Morris CW).  Chicago; University of Chicago Press 1970
  • 4 Erikson E H. Identity and the Life Cycle.  New York; Norton & Co 1994
  • 5 Elias N. Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Band I: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes.  Frankfurt/M; Suhrkamp 1997: 198
  • 6 Corbin A. Histoire de la vie privée (Hrsg. Ariès P, Duby G). Bd. 4: De la Révolution à la Grande Guerre (Hrsg. Perrot M). . Paris; Editions du Seuil 1987: 419-436
  • 7 de Balzac H. Glanz und Elend der Kurtisanen.  Wiesbaden; Vollmer o. J: 302
  • 8 Kafka F. In der Strafkolonie.  In: Das Urteil und andere Erzählungen (1935).  Frankfurt/M; Fischer 1952: 110
  • 9 Melville H. Moby Dick. (Übers. A. u. H. Seiffert).  Berlin; Aufbau Taschenbuch Verlag 2005
  • 10 Staats A. Melville. Moby-Dick.  In: Lang HJ (Hrsg). Der amerikanische Roman.  Düsseldorf; Bagel 1972: 103-141
  • 11 Olson C. Call Me Ishmael (1947).  New York; Grove Press 1958
  • 12 Hoffman D. Myth, Magic, and Metaphor in Moby-Dick.  In: Form and Fable in American Fiction. (1961).  New York; Norton & Co 1965
  • 13 Brumm U. Die religiöse Typologie im amerikanischen Denken.  Leiden; Brill 1963
  • 14 Schulz D. Suche und Abenteuer. Die „Quest” in der englischen und amerikanischen Erzählkunst der Romantik.  Heidelberg; Carl Winter Universitätsverlag 1981:
  • 15 Jung C G. Psychologie und Dichtung.  In: Ermatinger E (Hrsg). Philosophie der Literaturwissenschaft.  Berlin; Junker und Dünnhaupt 1930: 316
  • 16 Blumenberg H. Die Lesbarkeit der Welt. 2. Aufl.  Frankfurt/M; Suhrkamp 1983: 111 (hier auch weitere Ausführungen zu diesem Gedanken: 108 - 120)

Prof. Dr. Norbert Greiner

Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg

Von Melle Park 6 · 20146 Hamburg

Email: norbert.greiner@uni-hamburg.de