Diabetologie und Stoffwechsel 2006; 1: 181-187
DOI: 10.1055/s-2006-941459
DDG Praxis-Leitlinie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diabetische Neuropathie

M. Haslbeck1 , D. Luft1 , B. Neundörfer1 , H. Stracke1 , D. Ziegler1 , V. Hollenrieder1 , R. Bierwirth1 , W. Jost1
  • 1Institut für Diabetesforschung, München
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Publication History

Aktualisiert 2/2005

Publication Date:
14 June 2006 (online)

Sensomotorische diabetische Neuropathie

Definition, Risikofaktoren und Risikoindikatoren

Die diabetische Neuropathie ist eine klinisch-manifeste oder subklinische Erkrankung der peripheren Nerven, die infolge eines Diabetes mellitus ohne andere Ursachen auftritt. Sie kann das somatische und/oder das autonome Nervensystem betreffen. Es bestehen Assoziationen mit

  • Diabetesdauer,

  • Diabeteseinstellung (Hyperglykämie),

  • diabetischer Retinopathie,

  • diabetischer Nephropathie,

  • arterieller Hypertonie,

  • Hyperlipidämie,

  • Mediasklerose,

  • Alkohol und

  • Nikotin.

Eine sensomotorische periphere Neuropathie ist in 85 bis 90 % an der Ätiologie des diabetischen Fußsyndroms beteiligt und hat einen erstrangigen Stellenwert in der Risikokonstellation für Fußulkus und Amputation.

Bei manifestem Diabetes Typ 1 und Typ 2 ist heute mit einer mittleren Prävalenz der sensomotorischen (und autonomen) Neuropathie um 30 % zu rechnen. Etwa 10 bis 15 % der manifesten Diabetiker haben mehr oder weniger ausgeprägte Schmerzen.

Klinische Untersuchung und Diagnose

Aufgrund klinischer Kriterien können unterschiedliche Verlaufsformen unterschieden werden:

  • Subklinische Neuropathie (keine Symptome und klinische Befunde, aber pathologische quantitative neurophysiologische Tests),

  • chronisch-schmerzhafte Neuropathie (häufig),

  • akut-schmerzhafte Neuropathie (eher selten),

  • schmerzlose Neuropathie (häufig),

  • diabetische Amyotrophie (selten) und als

  • Langzeitkomplikation das diabetisch-neuropathische Fußsyndrom mit Fußulkus, Neuroosteoarthropathie und Amputation.

Als Minimalkriterien für die Diagnose gelten:

  • mäßig ausgeprägte neuropathische Zeichen (NDS 6 - 8 Punkte) mit oder ohne Symptome oder

  • leichte neuropathische Zeichen (NDS 3 - 5 Punkte) mit mäßig ausgeprägten Symptomen (NSS 5 - 6 Punkte).

WICHTIG:

Leichte Defizite allein (NDS 3 - 5 Punkte) oder in Kombination mit leichten Symptomen (NSS 3 - 4 Punkte) ermöglichen noch keine Neuropathiediagnose und sollten kontrolliert werden.

Zur Erkennung gefährdeter Patienten sollten bei zumindest jährlichen Arztbesuchen folgende Daten erhoben und Untersuchungen durchgeführt werden (siehe auch Gesundheits-Pass Diabetes):

  • Anamnese mit persönlichen Grunddaten und Diabetes-spezifischen Daten,

  • neuropathische Plus- und Minussymptome (z. B. sensible Reizerscheinungen, Schmerzen, Krämpfe, Taubheitsgefühl),

  • Inspektion (Hautfarbe, trophische Störungen, Fußdeformität, Fußulkus, Verletzungen, Infektion),

  • klinische Untersuchung (z. B. Hautemperatur, Gelenkbeweglichkeit, Palpation der Fußpulse, ggf. Messung der Dopplerdrucke mit Berechnung der Dopplerindizes) und

  • klinisch-neurologische Tests, die immer bilateral durchgeführt werden müssen (s. Praxistools, Tab. [1]).

    PRAXISTOOLS (s. Anhang)→ Abb. [1]: Diagnosekriterien für die sensomotorische diabetische Neuropathie→ Tab. [1]: Einfache neurologische Untersuchungsmethodenzur Diagnose der sensomotorischen diabetischen Neuropathie

Bei klinisch-manifester Neuropathie sollte die Basisuntersuchung im Abstand von höchstens 6 Monaten wiederholt werden. Die minimal notwendigen Tests ergeben sich aus dem NDS (s. Praxistools, Abb. [1]). Die zusätzliche Untersuchung der Temperatur- und Schmerzempfindung ist wichtig, da hierbei die sog. dünnen (markarmen und marklosen) A-delta- und C-Fasern erfasst werden, die etwa 80 % des peripheren Nervengewebes ausmachen.

Differenzialdiagnose

Differenzialdiagnostisch wichtig sind Medikamente (z. B. Zytostatika), Toxine (z. B. Alkohol) und andere Ursachen wie Niereninsuffizienz, periphere arterielle Verschlusskrankheit, Vitamin B12-Mangel, Tumorleiden, HIV-Infektion, Engpasssyndrome und CIDP (chronische, inflammatorische, demyelinisierende Polyneuropathie).

An eine andere Ätiologie muss gedacht werden und eine Überweisung zum Neurologen erfolgen bei:

  • Fehlen anderer diabetischer Langzeitkomplikationen (Retinopathie, Nephropathie),

  • vorwiegend motorischen Ausfällen,

  • rascher Entwicklung der Symptomatik,

  • stark ausgeprägter Asymmetrie, Mononeuropathie und Hirnnervenstörung,

  • Fortschreiten der Symptomatik trotz Optimierung der Stoffwechsellage,

  • Beginn der Symptomatik an den oberen Extremitäten,

  • Nachweis anderer neurologischer Symptome über das polyneuropathische Syndrom hinaus,

  • positiver Familienanamnese einer Neuropathie.

Therapie

Die Optimierung der Diabeteseinstellung ist der alleinige allgemein akzeptierte Kausalansatz zur Prävention und Therapie der diabetischen Neuropathie. Andere, pathogenetisch begründbare Therapieansätze sind derzeit nicht gesichert.

Risikofaktoren müssen erfasst und ggf. behandelt werden (s. o.). Wichtig ist der Hinweis, dass sich neuropathische Symptome unterschiedlicher Schweregrade innerhalb von Wochen bis Monaten spontan bessern können. Die wichtigsten therapeutischen Basismaßnahmen und die Möglichkeiten der symptomatischen Therapie sind im Anhang aufgeführt (s. Praxistools, Abb. [2]). Die Behandlung mit den aufgelisteten Pharmaka zur symptomatischen medikamentösen Therapie setzt detaillierte Kenntnisse von Wirkungen, Nebenwirkungen und Kontraindikationen voraus. Die Empfehlungen beruhen zum Teil auf nur wenigen Studien mit kleinen Fallzahlen.

PRAXISTOOL (s. Anhang)→ Abb. [2]: Therapie der sensomotorischen Neuropathie bei Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2

Prof. Dr. med. Werner Scherbaum, Vorsitzender der Leitlinienkommission DDG

Deutsche Diabetes-Klinik

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