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DOI: 10.1055/s-2006-939611
Strategien im Umgang mit kranken Familiensystemen
Die Scheidungsraten in Deutschland nehmen jährlich um ca. 2% zu. Im Durchschnitt sind in drei von vier Scheidungsfällen minderjährige Kinder betroffen. In den Medien wird schon darüber diskutiert, ob es sich bei der Familie um ein „Auslaufmodell“ handele: Ist das System Familie noch zu retten? Der Anteil der behandlungsbedürftigen Kinder und Jugendlichen, die bei einem getrennt oder geschiedenen Elternteil aufwachsen, ist mit 40% deutlich höher als bei der Normalbevölkerung (30%). Damit ist noch nicht ausgedrückt, wie belastet Kinder psychisch kranker Eltern sind, die häufig elterliche Versorgungsaufgaben übernehmen müssen. Aber auch bei intakt erscheinenden Familiensystemen ist die Rate der Störungen des Sozialverhaltens, der funktionellen Beschwerden, Ess-Störungen, depressiven Störungen und des Suchtmittelkonsums bei Minderjährigen angestiegen (HBSC-Studie WHO 2003). Schulpädagogen im Regelschulsystem sind überfordert. Die Familienberatungsstellen werden vor allem von kooperativen Sorgeberechtigten aus Mittelschichtfamilien frequentiert, die besonders gefährdeten Minderjährigen gar nicht oder erst viel zu spät von den Hilfe-Einrichtungen erreicht. Dem steigenden Behandlungsbedarf entgegen werden die Mittel der öffentlichen Gesundheits- und Jugendhilfe drastisch verringert. Die kassenärztliche Versorgung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen ist nach Expertenmeinung nicht ausreichend, und dann noch die steigende Kinderarmut (Bundesland Nds. 27%)!
Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht bedeutet dies, dass dringend präventive und intensivierte therapeutische Maßnahmen benötigt werden, um die Familiensysteme zu stärken und die Minderjährigen in ihrer körperlichen wie seelischen Entwicklung zu stabilisieren. Dazu ist ein effektiveres interdisziplinäres Zusammenwirken von medizinischen, pädagogisch-psychologischen und jugendhilflichen Institutionen dringend notwendig. Besonders der öffentlichen Gesundheits- und Jugendhilfe kommt hier im Sinne von Case-Management zunehmende Bedeutung zu.
Der Kurzvortrag soll Informationen und Anreize für Strategiemöglichkeiten im Umgang mit kranken Familiensystemen geben und zur Diskussion anregen. Wie kann die präventive Arbeit (z.B. Aufklärung, Motivationsarbeit, Screeningverfahren) früher einsetzen und besser vernetzt werden. Welche diagnostischen bzw. therapeutischen Verfahren stehen zur Verfügung? Welche finanziellen und personellen Mittel sind noch zu mobilisieren? Sind alternative Hilfesysteme wie z.B. Patenschaften, Sponsoring zu schaffen?