Fortschr Neurol Psychiatr 2007; 75(3): 172-185
DOI: 10.1055/s-2006-932154
Fort- und Weiterbildung
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Forensische Psychiatrie

Forensic PsychiatryN.  Nedopil1
  • 1Abteilung für forensische Psychiatrie, Psychiatrische Klinik der Universität München
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Publication Date:
13 March 2007 (online)

Definition

Die forensische Psychiatrie ist nach heutigem Verständnis ein Spezialgebiet der Psychiatrie, welches sich mit den fachspezifischen Begutachtungsfragen und mit der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher befasst. Forensisch, vom lateinischen „Forum” ( = der Platz, das Theater, das Gericht), bezieht sich im weitesten Sinn auf die Anwendung einer Wissenschaft zur Beantwortung von gerichtlichen Fragen. „Forensisch” ersetzt somit den deutschen Begriff „Gerichts-” oder „Rechts-” in den jeweils zusammengesetzten Wörtern wie Gerichtsmedizin, Rechtsmedizin und gerichtliche Psychiatrie. Das noch bis 1976 in Neuauflagen erschienene Standardwerk der Forensischen Psychiatrie von Langelüddeke und Bresser hieß Gerichtliche Psychiatrie [1].

Forensisch heißt: Recht und Gericht betreffend

Die forensische Psychiatrie im engeren Sinn befasst sich mit den Fragen, die von Gerichten und Behörden an Psychiater gestellt werden. In einem weiteren Sinn deckt das Fach jenen breiten Überlappungsbereich zwischen Recht und Psychiatrie ab, der sich sowohl aus den rechtlichen Problemen im Umgang mit psychisch Kranken und Gestörten für Ärzte, Gerichte und Behörden ergibt als auch aus den medizinischen und psychologischen Problemen dieser Menschen für ihre Fähigkeit zu rechtsrelevantem Handeln.

Ärztliches Handeln tangiert immer Grundrechte der Patienten. Es ist nur gerechtfertigt durch die Einwilligung des Patienten, nachdem dieser aufgeklärt ist. Darüber hinaus sind Bescheinigungen, Atteste und Formulargutachten rechtsverbindliche Aussagen. Die sozialrechtlichen Fragen nach Arbeitsunfähigkeit, nach Minderung der Erwerbsfähigkeit, nach Berufsunfähigkeit oder nach Unfallfolgen müssen von jedem Arzt beantwortet werden. Begutachtungen gehören somit zum Alltag von praktizierenden Ärzten aller Fachrichtungen. In der Psychiatrie hat die Begutachtungskunde jedoch eine wesentlich größere Bedeutung als in den anderen medizinischen Fachgebieten. Die Sonderstellung der Begutachtungskunde in der Psychiatrie resultiert aus dem großen Überlappungsbereich mit der Rechtsprechung und der historischen wie tatsächlichen Nähe zur Rechtsmedizin. Die sachlichen Notwendigkeiten für den Überlappungsbereich von Recht und Psychiatrie ergeben sich zum einen aus einer am einzelnen Menschen orientierten Rechtsprechung, zum anderen aus der Forderung, Rechte des Menschen auch dort zu respektieren, wo dieser seine Rechte nicht mehr selber wahrnehmen kann oder aufgrund einer Krankheit zu seinem eigenen Schaden auf vermeintlichen Rechten besteht.

Forensische Psychiatrie befasst sich 1. mit Fragen der Gerichte an die Psychiater; 2. mit Fragen, welche die Rechte der Patienten betreffen.

Literatur

  • 1 Langelüddeke A, Bresser P H. Gerichtliche Psychiatrie. Berlin, New York,: Walter de Gruyter 1976
  • 2 Janzarik W. Forschungsrichtungen und Lehrmeinungen in der Psychiatrie: Geschichte, Gegenwart, forensische Bedeutung. In: Göppinger H, Witter H (Hrsg). Handbuch der Forensischen Psychiatrie. Berlin, Heidelberg, New York, Springer 1972: 588-662
  • 3 Kraepelin E. Die Abschaffung des Strafmaßes. Stuttgart: Ferdinand Enke 1880
  • 4 Bleuler E. Der geborene Verbrecher. München: Lehmann 1896
  • 5 Schneider K. Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit. Stuttgart: Thieme 1948
  • 6 Sachverständigenkommission zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland . Psychiatrie Enquête.  BT Drucksache. 1975;  7/4200 67-375
  • 7 Hammerschlag H, Schwarz O. Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten.  Neue Zeitschrift für Strafrecht. 1998;  18 321-326
  • 8 Nedopil N. Prognosen in der forensischen Psychiatrie - ein Handbuch für die Praxis. Lengerich: Pabst Science Publisher 2005
  • 9 Nedopil N. Forensische Psychiatrie. In: Möller HJ, Laux G, Kapfhammer HP (Hrsg). Psychiatrie und Psychotherapie. 2. Aufl. Berlin, Heidelberg, New York, Barcelona, Hongkong, London, Mailand, Paris, Singapur, Tokyo: Springer 2003: 1821-1850
  • 10 Boetticher A, Nedopil N, Bosinski H AG, Saß H. Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten.  Neue Zeitschrift für Strafrecht. 2005;  25 57-63
  • 11 Krümpelmann J. Die Neugestaltung der Vorschriften über die Schuldfähigkeit durch das zweite Strafrechtsreformgesetz vom 4. Juli 1969.  Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. 1976;  88 6-27
  • 12 Saß H. Ein psychopathologisches Referenzsystem für die Beurteilung der Schuldfähigkeit.  Forensia. 1985;  6 35-43
  • 13 Rasch W. Forensische Psychiatrie. Stuttgart: Kohlhammer 1986
  • 14 Schreiber H-L, Rosenau H. Rechtliche Grundlagen der psychiatrischen Begutachtung. In: Venzlaff U, Foerster K (eds). Psychiatrische Begutachtung. 4. Aufl. München, Jena: Urban und Fischer 2004: 53-125
  • 15 Nedopil N. Forensische Psychiatrie. 2. Auflage ed. Stuttgart, New York: Thieme 2000
  • 16 Venzlaff U, Foerster K. Psychiatrische Begutachtung. 4. Aufl. München, Jena: Urban und Fischer 2004
  • 17 Nedopil N. The boundaries of courtroom expertise: Ethical issues in forensic psychiatry.  Directions in Psychiatry. 2004;  24 107-120
  • 18 Nedopil N. Begutachtung als Chance.  Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. 1989;  71 109-114

Prof. Dr. Norbert Nedopil

Psychiatrische Klinik der Universität München, Abteilung für forensische Psychiatrie

Nussbaumstraße 7

80336 München

Email: norbert.nedopil@med.uni-muenchen.de

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