Zusammenfassung
Ziel des Beitrages: Der Risikostrukturausgleich (RSA) in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) soll
dazu führen, dem Solidarprinzip nicht nur für die Gruppe der Versicherten jeder einzelnen
Krankenkasse, sondern über die gesamte GKV hinweg Geltung zu verschaffen. Beitragssatzunterschiede
sollen nicht differierende Risikoprofile der Versichertengemeinschaften, sondern unterschiedliche
Wirtschaftlichkeit in der Versorgung abbilden. Die Kritik an dem derzeitigen Ausgleichssystem
in Deutschland ist vielfältig und setzt u. a. an der fehlenden Morbiditätsorientierung
an. In dem Beitrag wird der Frage nachgegangen, ob diese Kritik stichhaltig ist. Methodik: Die derzeit verwendeten Variablen und Methoden zur Berechung des Risikostrukturausgleiches
werden diskutiert und mit einem alternativen Vorschlag für die zukünftige Ausgestaltung
des RSA verglichen, der sowohl eine stärkere Risikoorientierung vorsieht als auch
weiterhin Anreize für Krankenkassen belässt, um die Ausgaben für das Versorgungssystem
langfristig zu dämpfen. Ergebnisse: Für die Berechnung des RSA werden gegenwärtig die Variablen Alter, Geschlecht, Einkommen,
Zahl beitragsfrei mitversicherter Familienangehöriger und der Bezug von Erwerbsunfähigkeitsrenten
sowie die Einschreibung in ein akkreditiertes Disease-Management-Programm (DMP) einbezogen.
Insbesondere die letzte Variable bedingt einen hohen Kontrollaufwand, da die höheren
Zuzahlungen aus dem Ausgleichssystem an die Freiwilligkeit der Teilnahme und die aktive
Mitwirkung der Versicherten geknüpft ist. Das Argument, bei einer Weiterentwicklung
zu einem morbiditätsorientierten RSA fehle jeder Ansatz zu einem Kostenmanagement
der Krankenkassen, ist nur teilweise zutreffend, da nicht tatsächliche Kosten, sondern
lediglich standardisierte Ausgaben ausgeglichen werden. Um die Anreize zum Kostenmanagement
und zur Prävention nicht zu sehr zu schwächen, sollten die morbiditätsbedingten Ausgabenkomponenten
nicht vollständig ausgeglichen, sondern eine angemessene Aufteilung auf den RSA und
die Einzelkassen vorgenommen werden. Schlussfolgerungen: Eine immer weitere Verfeinerung des RSA setzt die falschen Schwerpunkte. Stattdessen
sollte ein morbiditätsorientierter RSA ein Teil der Einsparungen durch bessere Versorgungsstrukturen
bei den Kassen belassen und auch ambulante Behandlungsparameter umfassen. Die Umstellung
auf neue Vergütungsformen könnte es zukünftig erleichtern, Datengrundlagen für diese
erweiterte Form des RSA zu schaffen.
Abstract
Aim of the article: The risc structure compensation scheme within the German compulsory health insurance
system is intended to enforce the principle of solidarity all over the statutory health
insurance and not only within the different sickness funds. Differences in the contribution
rates should not reflect different risc profiles, but the differences of the efficiency
in social care. The criticism against the current adjustment system in Germany is
multifarious and points e. g. on the missing orientation to morbidity. This article
follows the question, whether this criticism is valid. Methods: The variables and methods, which are currently used to calculate the risc structure
adjustment are discussed and compared to an alternative proposal for the future form
of the risc structure adjustment, which includes both a higher orientation to riscs
and incentives for social health insurance funds to decline the costs for the social
care system on long-term. Results: Currently, for the calculation of the risc structure adjustment the following variables
are used: age, sex, income, number of family members who are exempted from contributions
and persons who get occupational disability pension, and number of insured persons
who are registered to an accredited Disease-Management-Program (DMP). Especially the
last variable includes a high control effort, because the higher co-payments of the
adjustment system are aligned to the voluntariness of participation and active collaboration
of the patients in DMP. The argument, a further development to a morbidity-oriented
risc structure adjustment leads to less cost management of the sickness funds is not
totally correct, because not actual, but standardised costs are the basis for compensation.
On the other hand the morbidity determined cost components should not totally be adjusted,
as a proper distribution of savings to the risc structure adjustment and the single
funds would still be an incentive for cost management and prevention. Conclusion: An ongoing refining of the risc structure adjustment might cause new incentive problems.
Instead a morbidity orientated risc structure compensation scheme should leave a part
of the savings due to better social care structures in the sickness funds and should
include outpatient care parameters. The change to a new honorarium system could create
a better data basis for this improved form of risc structure adjustment in the future.
Schlüsselwörter
Risikostrukturausgleich - Morbiditätsorientierung - Disease Management - Wettbewerb
- Selektion
Key words
Risk-structure-compensation - morbidity - Disease Management - competition - risc-selection
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1 Seit Einführung der Disease-Management-Programme in den RSA gibt es für jedes DMP
separate RSA-Gruppen, also derzeit 4 * 670 Gruppen für kein DMP, DMP Diabetes, DMP
KHK, DMP Brustkrebs.
2 Im Jahr 2005 betrugen die Netto-Verwaltungsausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung
8,1 Mrd. Euro, was 6,2 % der gesamten Leistungsausgaben entsprach. Dies wiederum entspricht
(bezogen auf den durchschnittlichen GKV-Beitragssatz) weniger als einem Beitragssatzpunkt.
Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (2005), Tabellen 10.6. [6]
Prof. Dr. Wolfgang Greiner
Fakultät für Gesundheitswissenschaften, School of Public Health - WHO Collaborating
Center, AG 5 - Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement, Universität Bielefeld
Postfach 10 01 31
33501 Bielefeld
Email: wolfgang.greiner@uni-bielefeld.de