Zusammenfassung
Ziele: Das erwerbsbezogene Leistungsvermögen ist eine der zentralen Kategorien der praktischen
Sozialmedizin. Es spielt insbesondere im Aufgabenbereich der Gesetzlichen Rentenversicherung
(z. B. bei der sozialmedizinischen Begutachtung) oder in der epidemiologischen bzw.
Rehaforschung eine wichtige Rolle. In einer früheren Studie an einer Bevölkerungsstichprobe
von LVA-Versicherten wurde eine kurze Skala zur subjektiven Prognose der Erwerbstätigkeit
(SPE-Skala; Range: 0 - 3) hinsichtlich ihrer Reliabilität überprüft. In einem weiteren
Schritt sollte nun untersucht werden, ob sich die SPE-Skala auch eignet, die sozialmedizinischen
Outcomes in dieser Bevölkerungsstichprobe über einen längeren Zeitraum vorherzusagen.
Methoden: Die Stichprobe entstammt einer Kohorte von initial berufstätigen LVA-Versicherten
der Geburtsjahrgänge 1944 - 1958 aus Lübeck und Umgebung. Sie wurden zwischen April
1999 und Juli 2000 mittels eines umfassenden Fragebogens untersucht. Von insgesamt
4225 dieser Probanden (= 95 % der Nettokohorte) liegen uns komplette SPE-Daten sowie
die folgenden Outcomedaten aus den Versichertenkonten vor: Renten (Antragsdatum und
Rentenbeginn) sowie ggf. das Todesdatum. Der erfasste Nachbeobachtungszeitraum beträgt
im Mittel 4,75 Jahre. Im Nachbeobachtungszeitraum wurden 323 Rentenanträge gestellt
(= 7,6 %) und 200 Renten gewährt (= 4,7 %). Die Auswertung erfolgte auf der Grundlage
von Überlebensanalysen (Cox-Regression). Ergebnisse: Eine erste Analyse unter Berücksichtigung von Alter und Geschlecht zeigte, dass Versicherte
mit einem Wert von „2” auf der SPE-Skala mit einer gegenüber denjenigen mit dem Wert
„0” dreifach (Berentung: zweifach) höheren Wahrscheinlichkeit einen Rentenantrag stellen
und Versicherte mit einem Wert von „3” sogar mit einer achtfach höheren Wahrscheinlichkeit
einen Rentenantrag stellen und auch berentet werden. Auch in der multivariaten Analyse
(Kovariate: allgemeiner Gesundheitszustand, Anzahl chronischer Erkrankungen, Vorliegen
einer Schwerbehinderung, berufliches Leistungsvermögen, AU-Dauer) blieb der eigenständige
prädiktive Anteil der SPE-Skala für den Endpunkt Rentenantragstellung mit einer über
zweifachen Wahrscheinlichkeitserhöhung bei einem Skalenwert von „3” erhalten. Schlussfolgerungen: Die Skala ist insbesondere zum Screening auf eine Gefährdung der Erwerbstätigkeit
sowie auch zur Unterstützung im sozialmedizinischen Begutachtungsverfahren geeignet.
Außerdem kann der Einsatz in der epidemiologischen oder Rehabilitationsforschung empfohlen
werden.
Abstract
Purpose: Vocational (dis-)ability is a key concept in social medicine. It plays a major role
in the realm of statutory pension funds (e. g. appraisal of applications for early
retirement) as well as in epidemiologic or rehabilitation research. In a former population-based
survey reliability of a short scale assessing the subjective prognosis of gainful
employment (SPE-Scale, range = 0 - 3) had been tested. We now wanted to explore whether
the SPE-Scale allows a prediction of vocational outcomes (early retirement) in the
population sample over longer periods of time. Methods: Statutory pension insurees from Luebeck and surroundings aged between 40 and 55 were
surveyed by questionnaire in 1999/2000. For 4225 subjects (= 95 % of the original
cohort) we obtained the following outcome data from pension fund records: dates of
any applications for early retirement and beginning of retirement, date of death.
The follow-up period covers 4.75 years on average. During this period 323 applications
for early retirement (= 7.6 %) were filed, and 200 subjects (= 4.7 %) actually retired.
Results: First analysis including age and sex as covariates showed a threefold (SPE = 2) and
eightfold (SPE = 3) risk of early retirement. Multivariate analysis (covariates: overall
health status, number of chronic conditions, approved disability, subjective vocational
ability, and length of sick leave measured at study onset) yielded a twofold risk
of filing an application for early retirement (SPE = 3). Conclusions: The SPE-Scale is an appropriate screening instrument for hazards regarding gainful
employment. It also can be recommended for use in epidemiologic or rehabilitation
surveys.
Schlüsselwörter
Sozialmedizin - Gefährdung der Erwerbstätigkeit - Erwerbsunfähigkeitsrente - Rehabilitationsforschung
Key words
Social medicine - hazards as to gainful employment - early retirement - rehabilitation
research
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1 Folgende Variablen aus dem postalischen Fragebogen zu Beginn des Beobachtungszeitraums
wurden auf einen Zusammenhang mit der Dauer bis zum Ereignis Rentenantrag analysiert:
Allgemeine Gesundheit (1-Item-Frage), Grad der Behinderung (zuerkannt bzw. beantragt
vs. nicht vorhanden), Leistungsvermögen im Beruf (Visuelle Analog Skala), AU-Zeiten
in den vergangenen 12 Monaten, Anzahl chronischer Erkrankungen, Gesamtwert Funktionsfragebogen
Hannover (FFbH-R), Somatisierung (Subskala der SCL-90-R), Schmerzausbreitung (Anzahl
unterschiedlicher Schmerzlokalisationen), Rückenschmerzgrad, Subskalen Vitalität und
psychische Gesundheit der Short-Form 36 (SF-36), Body Mass Index.
2 Folgende Variablen wurden dazu aufgenommen (in Klammern jeweils der prozentuale Anteil
fehlender Werte): Alter (0 %), Allgemeine Gesundheit (4,4 %), Leistungsfähigkeit im
Alltag (1,4 %), Leistungsfähigkeit im Beruf (2,5 %), Leistungsfähigkeit in der Freizeit
(2,6 %), AU-Zeiten in den vergangenen 12 Monaten (7 Kategorien; 1 %), Funktionskapazität
(FFbH-R, 0,5 %), Anzahl somatischer Beschwerden (0 %), Anzahl genannter Schmerzlokalisationen
(0 %), Rückenschmerzgrad (4 Kategorien, 2,2 %), Subskala Vitalität der SF-36 (0,7
%), Subskala Psychisches Wohlbefinden der SF-36 (0,8 %), Body-Mass-Index (0,9 %).
PD Dr. Oskar Mittag
Institut für Sozialmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (Campus Lübeck)
Beckergrube 43 - 47
23552 Lübeck
Email: oskar.mittag@sozmed.uni-luebeck.de