Gesundheitswesen 2006; 68(4): 265-270
DOI: 10.1055/s-2006-926701
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Befragung zur Wahrnehmung von Gewalt gegen Kinder und zur Nutzung des Leitfadens „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche” durch Brandenburger Kinder- und Jugendärzte

Survey on Awareness of Violence Against Children and the Use of the Guide “Violence Against Children and Young People” by Paediatricians in BrandenburgG. Ellsäßer1 , C. Cartheuser1
  • 1Landesgesundheitsamt Brandenburg im LASV
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Publication Date:
17 May 2006 (online)

Zusammenfassung

Im Land Brandenburg wurde nach dem Vorbild anderer Bundesländer für die Ärzte ein Leitfaden „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche” entwickelt. Er verfolgt zwei Ziele: Einerseits die Unterstützung der Ärzte in der Früherkennung von Gewaltanwendung gegen Kinder, andererseits die Verbesserung des interdisziplinären Fallmanagements. Um einschätzen zu können, ob dieser Leitfaden sich in der Praxis für nützlich erwiesen hat, wurde eine Nutzerbefragung durch das Landesgesundheitsamt durchgeführt. Außerdem wurden Schätzzahlen zur Häufigkeit von festgestellten Gewalttaten an Kindern durch die behandelnden Kinder- und Jugendärzte erhoben. Methodik: Nachdem im Jahr 2002/03 der Leitfaden allen ambulant und stationär tätigen Kinderärzten kostenlos zur Verfügung gestellt wurde, erfolgte eine Umfrage bei insgesamt 285 ambulant und stationär tätigen Kinder- und Jugendärzten bzw. Kinder- und Jugendpsychiatern über einen strukturierten Fragebogen zu folgenden Themen: Geschätzte Häufigkeit von Gewaltfällen (sichere Fälle sowie Verdachtsfälle), Umgang mit Gewaltfällen in der Praxis (Zusammenarbeit mit anderen Stellen, Versorgungssituation vor Ort, Bedarf an Unterstützung) und Beurteilung der Inhalte und Gestaltung des Leitfadens hinsichtlich des Nutzens der Informationen für die Praxis. Ein zweimaliges Versenden der Fragebögen erbrachte eine Response von 92 von insgesamt 285 Antworten (33,3 %). Ergebnisse: 82 (89,1 %) der pädiatrisch tätigen Ärzte haben mindestens einen Fall von Gewalt gegen Kinder im Verlauf des Jahres 2003 gesehen und nur 3 (3,3 %) keinen Fall. Insgesamt wurden 904 sichere Fälle und 945 Verdachtsfälle registriert. Auffällig ist die große Spannbreite der Angaben bezogen auf den meldenden Arzt. Sie lag zwischen Null und 179 sicheren Fällen bzw. zwischen Null und 120 Verdachtsfällen. 12 (13 %) Ärzte gaben an, in allen 4 Kategorien (körperliche Misshandlung, körperliche Vernachlässigung, emotionale Misshandlung, sexueller Missbrauch) sichere Fälle oder Verdachtsfälle behandelt zu haben. Andere Ärzte stellten keine sicheren Fälle fest, sondern nur Verdachtsfälle. Mit anderen Stellen zusammenzuarbeiten teilten zwar 80 (87 %) mit, aber 19 (20,6 %) waren mit der Zusammenarbeit unzufrieden. Einen Bedarf an Unterstützung im Einzelfall berichteten allein 59 (64,1 %), insbesondere durch folgende Institutionen: 1. das Jugendamt, 2. die Kinder- und Jugendpsychiatrie, 3. das Gesundheitsamt. Die Versorgungssituation vor Ort beurteilten 28 (30,4 %) der Ärzte für nicht ausreichend. Bewertung des Leitfadens: Von den 49 Ärzten (53,3 % aller Befragten), die den Leitfaden gelesen hatten, benoteten 44 (88,8 %) die Gestaltung und die Inhalte des Leitfadens im Gesamturteil mit „gut” oder „sehr gut”. 19 (38,8 %) dieser Ärzte gaben an, dass sich durch die Arbeit mit dem Leitfaden Veränderungen ergeben haben und sie sicherer im Umgang mit der Problematik „Gewalt gegen Kinder” seien. Schlussfolgerung: Gewalt an Kindern und Jugendlichen wird durch pädiatrisch tätige Ärzte in Brandenburg wahrgenommen. Der Leitfaden „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche” stellt für sie nützliche Informationen zum Vorgehen in der Praxis zur Verfügung. Das Bündnis „Gesund Aufwachsen in Brandenburg” hat den Bedarf an Unterstützung in Form eines Maßnahmenplanes aufgegriffen. Einerseits werden spezifische Fortbildungen für Kinderärzte und bereichsübergreifende Fortbildungen angeboten, andererseits soll durch regionale Arbeitsgruppen eine bessere Vernetzung der Akteure vor Ort erfolgen.

Abstract

Following the lead of other German Federal States, Brandenburg has developed a guide entitled “Violence Against Children and Young People” for use by paediatricians. This guide has two objectives: to help doctors detect violence against children at an early stage, and to improve interdisciplinary case management. In order to assess whether the guide has proved its worth in practice, the Public Health Institute of Brandenburg conducted a survey among users. In addition, paediatricians treating the victims were interviewed to obtain estimates of the incidence rate of such acts of violence against children. Methodology: In 2002/03, the guide was provided free of charge to all paediatricians engaged in the treatment of in- and outpatients, and a structured questionnaire was used to interview a total of 285 such doctors and child and youth psychiatrists on the following topics: estimated incidence rate of acts of violence (proven and suspected cases), case management in practice (cooperation with other agencies, provision of care, support needs) as well as assessment of the guide’s content and design in terms of the practical utility of the information provided. After the questionnaires had been sent out a second time, the response rate was 33.3 % (92 out of a total of 285). Results: 82 (89.1 %) of the paediatricians questioned had dealt with at least one case of violence against children in 2003; only three doctors had seen no case at all. A total of 904 proven and 945 suspected cases were registered. One striking result of the survey was the great variation in the number of cases registered by individual doctors: between 0 and 179 proven cases, and between 0 and 120 suspected cases. 12 doctors (13 %) stated that they had treated proven or suspected cases in all four categories (physical abuse, physical neglect, emotional abuse, sexual abuse). Other doctors registered no proven, only suspected cases. 80 doctors (87 %) questioned said that they worked together with other agencies, but 19 (20.6 %) were dissatisfied with this cooperation. 59 (64.1 %) reported a need for case-related support, particularly from the following institutions: 1. Youth Welfare Office, 2. Child and Youth Psychiatry, 3. Public Health Office. 19 (30.4 %) doctors regarded the local provision of care as insufficient. Results of the guide’s evaluation: 44 out of a total of 49 doctors (88.8 %) considered the guide’s design and contents “good” or “very good”. 19 doctors (38.8 %) stated that the guide had led to changes in the way they work and that they were now able to deal with the problem of violence against children more confidently. Conclusion: Paediatricians in Brandenburg testify to cases of violence against children. The guide “Violence Against Children and Young People” offers useful information on the practical handling of such cases. The alliance “Growing up Healthy in Brandenburg” tackless the need for support by developing a catalogue of measures to be implemented. These include conducting specialised further training for paediatricians as well as cross-disciplinary furthertraining measures, and setting up regional working groups to improve basic networking in practice.

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Dr. Gabriele Ellsäßer

Landesgesundheitsamt Brandenburg im LASV

Wünsdorfer Platz 3

15838 Wünsdorf

Email: Gabriele.Ellsaesser@LGA.Brandenburg.de

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