Gesundheitswesen 2005; 67 - P41
DOI: 10.1055/s-2005-920629

Zum Stellenwert der Rehabilitation im gesellschaftlichen Wandel

A Weber 1
  • 1Medizinische Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Hintergrund/Ziele und Forschungsfragen: Die Qualität der rehabilitativen Versorgung und die institutionellen Kooperationen auf dem Gebiet der Rehabilitation sind in den letzten Jahren nicht zuletzt durch die Ergebnisse der rehabilitationswissenschaftlichen Forschung in Deutschland entscheidend vorangetrieben worden. Dennoch erscheinen die An- und Herausforderungen an die Rehabilitation ihre Träger und Einrichtungen angesichts der ökonomischen, technischen, demographischen und gesellschaftlichen Entwicklungen größer als je zuvor. Wie können, neben der Weiterentwicklung in der Medizin und den ökonomisch bedingten Restriktionen, theoretische Grundlagen für die Rehabilitation und deren Stellenwert im Versorgungssystem erarbeitet werden, die sich an den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten orientieren und die Herausforderungen der Zukunft bestehen lassen. Material und Methoden: Zwar hat die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation als länder- und fachübergreifende einheitliche Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren einer Person verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen Rechnung getragen, doch lassen sich daraus nur bedingt Folgen und konkrete Konsequenzen für die strukturellen Gegebenheiten der rehabilitativen Versorgung chronisch kranker und behinderter Menschen ableiten. Ergebnisse: Einen weniger an der jeweiligen Person zentrierten Ansatz als Theoriebaustein für die rehabilitative Versorgung können Theorien des sozialen Wandel (Jäger/ Meyer, Scheuch) liefern. Betrachtet und bewertet man den gesellschaftlichen Stellenwert der Rehabilitation und der rehabilitativen Versorgung in Deutschland und somit auch ihre Ausstattung und Aufgaben, so kann in Anlehnung an Durkheims Grundsatz „Soziales aus Sozialem“ zu erklären, gezeigt werden, dass es Mechanismen des gesellschaftlichen Strukturwandels gibt, die als Art makroskopische Gesetzmäßigkeiten die Stellung der Rehabilitation in der Versorgung und Reintegration chronisch kranker und behinderter Menschen bestimmen. So beschreibt Richard Sennett in seinem Essay „Der flexible Mensch“ (1998) die Arbeitssituation und Lebensgestaltung verschiedener Menschen aus der Lower East Side in Manhattan. Seine Grundintention ist es, anhand dieser Fallbeispiele aufzuzeigen, wie Menschen angesichts der Herausforderungen des modernen Kapitalismus sich gezwungen sehen, „flexibel“ zu werden, d.h. sich den Erfordernissen einer diffusen und von Brüchen in Erwerbsverläufen gekennzeichneten Arbeitswelt anzupassen. Die Geschwindigkeit von Veränderungen, die Anforderungen des lebenslangen (Er-) Lernens auf dem sich ständig wandelnden Arbeitsmarkt, haben Unsicherheit und Instabilität bezüglich qualifikatorischer Anforderungen zur Norm werden lassen. Die kurzfristig angelegten Gewinnmaximierungsstrategien im Sinne der Arbeitsplatzsicherung stehen nach Sennett im völligen Gegensatz zu den auf Langfristigkeit angelegten Prozessen der Sozialintegration, des Wurzelschlagens, der Charakterbildung oder anders formuliert: der Reintegration. Die hier beschriebenen Entwicklungen haben nachhaltige Auswirkungen auf Rehabilitation, Rehabilitationsstrukturen und Rehabilitationserfolg. Schlussfolgerungen und Diskussion: Wenn Rehabilitation und Rehabilitationserfolg aber als integraler Bestandteil einer Gesellschaft angesehen werden soll, dann bedarf es einer über den funktionalen Aspekt hinausgehenden theoretisch gestützten Begründung, weshalb rehabilitative Strukturen erhaltens- und verbesserungswürdig sind, weshalb sie notwendig und möglicherweise konstitutiv für gesellschaftliches Miteinander sind. Die Theorien des sozialen Wandels zeigen die gesellschaftlichen Herausforderungen deutlich auf, einige können deutliche Hinweise zur weiteren Ausgestaltung der Rehabilitation in Deutschland geben.