Zusammenfassung
Der Prozess um den Mörder Johann Christian Woyzeck gehört zu den großen gerichtspsychiatrischen
Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. Nicht nur durch das gleichnamige Drama
Georg Büchners wurde der Fall weltberühmt.
Eine Rekonstruktion des historischen Prozessverlaufs würde es erlauben, gerade auch
eine der wichtigsten Etappen der Entstehung moderner psychiatrischer Positionen zur
Frage der Zurechnungsfähigkeit von Straftätern nachzuzeichnen. Diesem eingedenk, werden
an dieser Stelle erstmals zwei wieder entdeckte, bisher nur in Abschriften bekannte,
aber für die Geschichte der Gerichtspsychiatrie grundlegende Bedeutung tragende Originalhandschriften
des Prozesses vorgestellt. Die beiden hier nun präsentierten Todesurteile des Leipziger
Schöppenstuhls spiegeln denn sogar einigermaßen deutlich das Bemühen der herrschenden
feudalen und städtischen Autoritäten wider, die Prozessvorschriften und das psychiatrisch-forensische
Gutachten des mit der Untersuchung der Zurechnungsfähigkeit Woyzecks beauftragten
Mediziners Johann Christian August Clarus im Sinne politisch restaurativer Interessen
zu instrumentalisieren. So wird denn an den vorgegebenen gesetzlichen Schranken starr
festgehalten und die eigentliche Frage, die Zurechnungsfähigkeit des Täters, steht
nicht im Zentrum des Prozesses. Die Verteidigung, die noch dazu fachpsychiatrisch
laienhaft und widersprüchlich argumentiert, Sachverhalte manipuliert und die gelehrte,
staatsreformerisch-humanistisch sich regende Öffentlichkeit aufzubringen gedenkt,
steht dagegen auf verlorenem Posten.
Abstract
The trial of Johann Christian Woyzeck for murder is among the most significant for
forensic psychiatry in the 19th century. The case gained worldwide fame, not only because of Georg Büchner's eponymous
drama.
A thorough analysis and reconstruction of the proceedings would allow more light to
be shed on one of the major events in the evolution of modern psychiatric positions
regarding criminal responsibility. To support this effort, this paper presents two
original sources that have just been rediscovered in the archives, and which are of
major importance in respect of both the Woyzeck case and the history of forensic psychiatry.
Until now only transcripts had been available. The two documents in question relate
to the death sentences issued by the Leipzig magistrates court (Schöppenstuhl). They
clearly show the ruling feudal and municipal authorities' efforts to exploit both
the general rules of procedure as well as the forensic testimony given by Leipzig's
medical officer and professor, Johann Christian August Clarus, for their own restorative
political interests. This is revealed by the fact, among others, that the legal procedures
are interpreted in the narrowest possible way and the crux of the problem, namely
the culprit's criminal responsibility, is not really the focus of attention. The defence
does not really have a chance, the more so since it makes pleas that are both contradictory
and amateurist from a psychiatric point of view. Moreover, its efforts to garner support
from reformist forces, above all among scholars, are undermined by the defence team's
manipulation of the facts.
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Holger Steinberg
Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte · Klinik und Poliklinik für Psychiatrie,
Universität Leipzig
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