Hintergrund:
Die Messung und Objektivierung sensomotorischer Leistungsmerk- male ist sehr aufwendig
und schwierig, da es sich beim sensomotorischen System um ein komplexes, multimodal
beeinflusstes und multilokuläres System handelt (Scherer, 1997; Runge, 2002; Quante,
2002). Vor dem Hintergrund des hohen Stellenwertes des sensomotorischen Trainings
in Prävention, Therapie und Rehabilitation sowie in Ermangelung valider, reliabler
und praktikabler Assessments zur Diagnostik der sensomotorischen Leistungsfähigkeit
ist es dringend erforderlich, derartige Verfahren zu entwickeln und zu evaluieren
(Werle & Zimber, 1999).
Fragestellung:
Ziel dieser Untersuchung war es, ein neues posturographisches Messsystem, das Interaktive
Balancesystem (IBS), auf seine interne Validität hinsichtlich der Parametrisierung
der posturalen Subsysteme mittels Fourier-Analyse zu prüfen.
Methode: Anhand von drei Fall-Kontroll-Studien (F 1 [0,03–0,1Hz]: Sehbehinderte (n=88); F
2–4 [(0,1–0,5Hz): Cochlear-Implant Patienten (n=57); F 7–8 [über 1Hz]: Parkinson-
und Kleinhirnpatienten (n=60)) und einer artifiziell induzierten Störung der Somatosensorik
(F 5–6 [0,5–1,0Hz]: Kälteapplikation (n=88)) wurde die frequenzanalytische (FFT) Repräsentation
der einzelnen posturalen Subsysteme (F1: visuell; F 2–4: peripher-vestibulär; F 5–6:
somatosensorisch; F 7–8: zentral, cerebellär) quasiexperimentell mittels des IBS überprüft.
Das IBS erfasst differenziert auf vier Kraftmessplattformen vertikale Kräfte im Vorfuß–
und Rückfußbereich und setzt diese in Beziehung zueinander. Die Untersuchung beinhaltet
acht Messungen in standardisierten Testpositionen mit und ohne bzw. reduzierter visueller,
peripher-vestibulärer oder somatosensorischer Kontrolle. Die Analyse der posturalen
Subsysteme erfolgt mittels Frequenzanalyse (FFT).
Ergebnis: Die Sehbehinderten wiesen in allen posturographischen Parametern bessere Testleistungen
auf, wobei insbesondere der signifikante Unterschied (p=0.025) im Frequenzbereich
F 1 hervorzuheben ist. Dagegen offenbarten die CI-Patienten, mit Ausnahme der Fersenbelastung,
im Vergleich zu den Hörgesunden in allen Parametern Nachteile hinsichtlich der Haltungsregulation
als Ausdruck einer tendenziell größeren Instabilität. Bemerkenswert sind die signifikanten
Mittelwertunterschiede im Frequenzband F 2–4 (p=0.017), wobei der Frequenzbereich
F 3 die größte peripher-vestibuläre Sensitivität zu haben scheint. Der durch die Kälteapplikation
an der Fußsohle induzierte Stabilitätsverlust ging einher mit einer erhöhten Aktivität
der posturalen Subsysteme. Mit Ausnahme der Frequenzbereiche F 2 und F 3 veränderten
sich alle Frequenzparameter signifikant, wobei die größten Veränderungen in den Frequenzbereichen
F 7 und F 8 zu beobachten waren. Die Varianzanalyse (M. Parkinsonpatienten vs. Kontrollgruppe)
zeigte, dass, unabhängig von der Testposition, in den Parametern F 1 (Effektstärke:
19.7%) und WDI (Effektstärke: 20.5%) die größten Unterschiede zwischen beiden Kollektiven
bestehen. Die cerebelläre Problematik manifestierte sich im Frequenzbereich F 8.
Diskussion:
Auf der Basis der Frequenzbereiche der Fourier-Analyse scheint es möglich zu sein,
valide und reliable Rückschlüsse bezüglich der posturalen Subsysteme zu ziehen. Übereinstimmend
mit Kohen-Raz (1996) und Oppenheim et al. (1999) können auch Veränderungen im Bereich
des somatosensorischen Systems auf einen Frequenzbereich (F 5–6) fokussiert werden.
Eine Störung im somatosensorischen System tangiert zwar die Frequenzbereiche F 1 und
F 7–8 signifikant, was aufgrund der Komplexität dieses Systems auch nicht überrascht.
Jedoch waren signifikante Veränderungen im Frequenzbereich F 5–6 nur bei expliziter
somatosensorischer Einflussnahme zu beobachten. Der Frequenzbereich F 1 repräsentiert
neben dem visuellen System auch das nigrostriatale System.
Schlussfolgerung:
Die Zuordnung der Frequenzbereiche der Fourier-Analyse zu den posturalen Subsystemen
stellt einen wichtigen Schritt zur Quantifizierung sensomotorischer Trainingseffekte
dar. Sie sollte jedoch keinesfalls als endgültig betrachtet werden. U.U. sind einzelne
Frequenzbereiche auch als Indikatoren für mehrere Systeme in Betracht zu ziehen, was
in weiteren Untersuchungen abzuklären ist.
Literatur:
Kohen-Raz, R. (1996). Learning Disabilities and Postural Control (2. Aufl.). London:
Freund Pubblishing House.
Oppenheim, U., Kohen-Raz, R., Alex, D., Kohen-Raz, A. & Azarya, M. (1999). Postural
Characteristics of Diabetic Neuropathy. Diabetes Care 22 (2), 328–332.
Quante, M. (2002). Die Messung sensomotorischer Leistungsmerkmale: Verständnis des
Systems über Erfassung von Teilaspekten?. Osteologie 11 (1), 7–9.
Runge, M. (2002). Sturzrisiko-Assessment: Diagnostik der neuromuskulären Regulation
als notwendiger Bestandteil der Osteoporosediagnostik. Osteologie 11 (1), 10–17.
Scherer, H. (1997). Das Gleichgewicht. Berlin, Heidelberg, New York: Springer.