Fortschr Neurol Psychiatr 2006; 74(7): 400-419
DOI: 10.1055/s-2005-915640
Fort- und Weiterbildung
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Suizidalität - Suizid und Suizidprävention

Suicidality - Suicide and Suicide PreventionM.  Wolfersdorf1 , C.  Franke1
  • 1Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Bezirkskrankenhaus Bayreuth
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Publication Date:
28 June 2006 (online)

1. Einleitung: Historische Anmerkung

Nach Angaben der WHO 2003 [1] [2] sterben weltweit jedes Jahr ca. 1 Mill. Menschen durch Suizid; bei jungen Menschen ist Suizid weltweit die häufigste Todesursache. Suizidversuche mit geschätzten 20 - 50 Mill. weltweit sind wesentlich häufiger, wobei es keine zuverlässigen Daten gibt. Suizidales Denken und Handeln hat es in der Menschheitsgeschichte schon immer gegeben [3]. Ob der Vorzeitmensch die Selbsttötung bereits kannte, ist nicht bekannt. Der französische Historiker Minois [4] legte die erste große historische Untersuchung über den Suizid im Abendland von der Antike bis zum 20. Jahrhundert vor und fragte: „Warum haben sich in dieser oder jener Epoche Menschen dafür entschieden, nicht mehr zu sein? Jeder Einzelne hatte seine Gründe, und es kommt darauf an, sie zu verstehen, denn diese Haltung enthüllt uns die lebenswichtigen Werte der Gesellschaft. Sie betrifft sowohl das Individuum als auch die Gruppe” (Zitat [4]). Er zitiert Albert Camus „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere - ob die Welt drei Dimensionen oder der Geist neun oder zwölf Kategorien habe - kommt erst später. Das sind Spielereien; zunächst heißt es, Antwort geben” [5].

Suizidales Denken und Handeln gibt es seit Beginn der Menschheitsgeschichte, die Bewertung von Suizidalität war über die Jahrhunderte hinweg sehr unterschiedlich; siehe dazu Religionen, Philosophie und Theologie. Seit dem 19. Jahrhundert ist das bis dahin überwiegende religiöse Paradigma durch das heute gültige „medizinisch-psychosoziale Paradigma” von Suizidalität abgelöst worden. Suizidologie, Suizidprävention, Hilfe in suizidalen Krisen fallen damit in den Bereich der medizinisch-psychosozialen Fürsorge.

Die Bewertung von Suizidalität war im Laufe der Menschheitsgeschichte unterschiedlich: Suizidalität als Ausdruck der Freiheit des Menschen oder als Ausdruck größter Einengung durch psychische Erkrankung oder Lebenssituation; Selbsttötung als sittlich hochstehende Tat oder als verwerflich, sündhaft, schuldhaft; Selbsttötung gesellschaftlich gefordert oder gesellschaftlich geächtetes Verhalten [6]. Die Wertung in Religionen ist unterschiedlich: Verbot des Suizides im jüdischen Talmud und im Islam, im Christentum fehlende Verurteilung suizidaler Handlungen im Alten und Neuen Testament, Negierung des Suizides im Buddhismus oder Hinduismus. In der frühen Neuzeit [7] galt der Suizid, nicht zuletzt im Anschluss an die Entwicklungen in der christlichen Kirche nach dem Konzil von Arles 452, wo der Suizid als Verbrechen und dann später im Konzil von Nimes 1184 als Todsünde mit Verdammung festgelegt wurde, im kirchlichen und weltlichen Recht als strafbare Handlung. Erst im 18. Jahrhundert, so Lind [7], entwickelte sich ein aufklärerischer Diskurs, der für die Straflosigkeit des Suizides plädierte, der nun als Akt menschlicher Willensfreiheit bzw. Ausdruck von Krankheit aufgefasst wurde. In der Medizin/Psychiatrie wurde Suizidalität im Kontext von Melancholie diskutiert, denkt man an die Äußerungen von Robert Burton in seinem Werk über die Melancholie 1621 oder auch an die Formulierungen von Griesinger 1867, der Suizid in Zusammenhang mit „Schwermut mit Äußerung von Zerstörungstrieben” und den Suizid „durchaus nicht immer” als Symptom einer psychischen Erkrankung sah. Von Esquirol (1838) stammt die Aussage: „Der Selbstmord bietet alle Merkmale der Geisteskrankheit”, womit Suizidalität der Psychiatrie zugeordnet und die Grundlage für ein heutiges „medizinisch-psychosoziales Paradigma” von Suizidalität in Ablösung einer Jahrhunderte lang bestehenden religiös-philosophischen Sichtweise vorbereitet wurde [6]. Seit Besetzung des Themas Suizidalität durch Medizin und im engeren Sinne Psychiatrie sowie das 1897 erschienene soziologische Werk von Durkheim „Der Selbstmord” [9] entsteht neben der Arbeit mit suizidalen Menschen die wissenschaftliche Suizidologie als ein Querschnittsfach, das heute von Religion und Philosophie bis hin zu Psychologie, Psychiatrie, Epidemiologie, Neurobiologie und Genetik reicht [8].

Suizidprävention beschäftigt sich mit Menschen, die in psychophysischer und sozialer Not oder in Minderung freier Selbstverfügbarkeit Hilfe benötigen. Es geht nicht nur um das Verhüten von akutem Versterben im Sinne von Zeitgewinn, sondern um an- und einforderbare Hilfsangebote, um Klärung und Fürsorge, Diagnostik und Therapie. In diesem Zusammenhang gibt es auch keinen „Freitod” [6], wobei bilanzierende Aspekte in nahezu jeder suizidalen Handlung eine Rolle spielen, die jedoch nicht mit „Freiheit der Wahl” verwechselt werden dürfen. Im Bereich psychischer Not geht es um Hilfsbedürftigkeit, um Prävention von selbstschädigendem Verhalten und um Therapie.

Literatur

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  • 5 Camus A. Der Mythos von Sisyphos. Hamburg: Rowohlt 1959
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Prof. Dr. med. Manfred Wolfersdorf

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und PsychosomatikBezirkskrankenhaus Bayreuth

Nordring 2

95445 Bayreuth

Email: manfred.wolfersdorf@bezirkskrankenhaus-bayreuth.de

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