NOTARZT 2006; 22(1): 1-3
DOI: 10.1055/s-2005-915409
Editorial
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„Hannoversches Konzept” - grundlegende Neuorientierung?

„The Hannover Concept” - A Fundamental Reorientation?D.  Stratmann
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Publication Date:
20 February 2006 (online)

Das im Juni 2005 von Adams et al. veröffentlichte „Rahmenkonzept” für die „Überörtliche Hilfe beim Massenanfall von Verletzten (Ü-MANV)” [1] erfordert eine Stellungnahme der BAND, weil es in Teilbereichen bis dato bundesweit unstrittige medizinische Grundkonzepte infrage stellt, wie sie auch - natürlich angepasst an die aktuelle Entwicklung - in den von den Notarzt-Arbeitsgemeinschaften in Deutschland flächendeckend durchgeführten Fortbildungsseminaren für „Leitende Notärzte” (ca. 200 Kurse seit 1988) vermittelt werden.

Leider ist auch die Ebene der von uns zunächst als Diskussionsgrundlage gewerteten Vorschläge dadurch zwischenzeitlich verlassen worden, dass in einer Presseinformation von Vertretern der MHH und der Feuerwehr Hannover bereits die Umsetzung angekündigt wurde [2]. Damit ist eine bundeseinheitliche medizinische Konzeption in einer momentan wegen der Fußball-WM 2006 besonders aktuellen Planungssituation einseitig deutlich infrage gestellt worden.

Dies ist umso bedauerlicher, weil die medizinische Konzeption und Einsatztaktik ja nur ein Teilbereich in einem extrem vielschichtigen Gesamtkonzept der Gefahrenabwehr zahlreicher beteiligter Behörden, Institutionen und Organisationen mit weitreichenden Folgen z. B. für die Einsatzabwicklung, Ausrüstung, Ausbildung ist. Dass es dennoch bisher gelungen ist, immer eine Übereinstimmung auch in medizinischen Fragen zu erzielen, ist als Erfolg zu werten und zu sichern, um weiterhin die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche gemeinsame Schadensbekämpfung gerade auch in Extremsituationen zu garantieren.

Jede Änderung/Erweiterung bestehender Konzepte bedarf daher immer einer für alle Beteiligten nachvollziehbaren und praxisrelevanten Begründung. Diese erkennt die BAND aber im „Hannoverschen Konzept” weitestgehend nicht.

Die BAND sieht daher keine Veranlassung, inhaltlich von ihrer grundsätzlichen Stellungnahme zu den Strategien des Rettungsdienstes (und Katastrophenschutzes) als Konsequenz nach dem 11. September 2001 abzuweichen [3] [4]. Es bereitet dabei auch überhaupt keine Probleme, neue Aspekte, wie z. B. den soeben von der AG Notfallmedizin der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) veröffentlichten und auf breiter Basis konsentierten „Algorithmus für den Massenanfall von Verletzten an der Unfallstelle” zu integrieren [5].

Die BAND stimmt auch weiterhin überein mit primär nicht aus dem notärztlichen Bereich kommenden, aber eben weitestgehend abgestimmten Konzepten. Beispielhaft können hier die „Planungsgrundlagen zur Dimensionierung des Sanitätsdienstes” der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren angesehen werden, die auch für die an der Planung beteiligten und verantwortlichen Ärzte eine praktikable Hilfestellung darstellen. Dies gilt natürlich unabhängig davon, ob eine einzelne Berufsfeuerwehr die Konzeption mit trägt.

Die Grundsätze der medizinischen Versorgung unterscheiden sich nicht primär durch die Anzahl Betroffener. Es macht daher keinen Sinn, Grenzwerte für zwei unterschiedliche Konzepte für den Massenanfall ohne/mit überörtlicher Hilfe aufzustellen. Wer soll wann rechtzeitig die Feststellung treffen, welches Konzept gilt, zumal neben der Anzahl Betroffener insbesondere Art und Schwere der Schädigungen, Gefährdungspotenziale, Zugänglichkeit zum Schadensgebiet, vorhandene Ressourcen etc. die Entscheidung mitbestimmen? Es ist Aufgabe der Einsatzleitung, die bei einem weiterhin einheitlichen Grundkonzept erforderlichen zusätzlichen oder ggf. auch geänderten Maßnahmen zu bestimmen und umzusetzen, wie sie bei jedem einzelnen Schadensfall erforderlich sein können.

Auch die im „Hannoverschen Konzept” vorgeschlagene zusätzliche - zu der von der Konsensuskonferenz 2003 vorgeschlagene - Sichtung und -dokumentation mit zunächst rotem und weißem Farbmerkmal wird in Sinn und Funktionalität nicht erkannt. Sie würde nur „Schnittstellenprobleme” zwischen erster und zweiter Sichtung, zusätzlichen Aufwand in einer ohnehin extremen Mangelsituation und erhöhten Ausbildungsbedarf produzieren. Schmidt bezeichnet sie zu Recht als „obsolet” [6].

Wie auch bereits von Habers [7] bedauert, befasst sich das „Hannoversche Konzept” leider nicht weiter mit dem besonders kritischen Versorgungsbereich, dem der „Verletztenablage” bzw. „Verletztensammelstelle”, die konzeptionell und nach Besetzung und Ausstattung bisher leider keineswegs bundeseinheitlich geregelt ist.

Aus Sicht der BAND und in Übereinstimmung mit der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin stellt gerade der „Behandlungsplatz” einen unverzichtbaren und in seiner Bedeutung zentralen Versorgungsbereich dar [8]. Das „Hannoversche Konzept” fordert nun für diesen „Behandlungsplatz” die neue Bezeichnung „Rettungsstation” und weist ihm nur Patienten der Sichtungsgruppen I und II zu, die der Gruppe III und IV sollen außerhalb des Behandlungsplatzes gesammelt bzw. betreut werden. Nach Ansicht der BAND ist weder eine neue Bezeichnung zwingend noch benötigen Patienten der Gruppen III und IV getrennte Versorgungsbereiche mit dann erforderlicher eigener Führung, Versorgungsstruktur, Transportorganisation etc. und all den Problemen, wie sie beim Wechsel von Patienten z. B. der Sichtungskategorie III nach II und im Hinblick auf einen multifunktionalen Einsatz des Personals auftreten würden. Alle einem Behandlungsplatz zugeführten Patienten müssen nach Ansicht der BAND unter dessen einheitlicher Leitung verbleiben, ohne dass damit immer auch eine direkte räumliche Nähe der unterschiedlichen Patientengruppen verbunden sein muss.

Auch aus Sicht der BAND wird berechtigt wesentliche Kritik am „Hannoverschen Konzept” geübt im Hinblick auf die sog. „Erstversorgungskliniken (EVK)”, denen möglichst rasch alle Patienten der Gruppen I und II zugeführt werden sollen, um dort (operativ) erstversorgt und ggf. sekundär in andere „Unterstützung”-Kliniken weiterverlegt zu werden. Unterstützt werden sollen diese EVK durch neu einzurichtende „Klinik-Unterstützungsgruppen (KUG)” mit Ärzten, Rettungs- und Sanitätskräften des Rettungsdienstes auf dem Gelände der Klinik.

Grundsätzlich sieht die BAND, wiederum in Übereinstimmung mit der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin [8] keinen Anlass, vom bisherigen Konzept der natürlich zeitgerechten aber gezielten Zuweisung von Patienten in geeignete Kliniken - möglichst nach Stabilisierung der Vitalfunktionen im Bereich der Verletztenablage(n) bzw. Behandlungsplätze vor Ort - abzuweichen zugunsten einer raschen Zuweisung möglichst vieler Schwerverletzter in eine Groß-Klinik.

Hierfür stehen in der Frühphase weder ausreichende Transportkapazitäten zur Verfügung (wie auch die Übung in München gezeigt hat) noch verfügen alle Rettungsdienstbereiche flächendeckend in Deutschland über Großkliniken in räumlicher Nähe.

Die BAND kann auch nicht nachvollziehen, dass Adams „unter diesen Bedingungen” für die Transportorganisation die Unterscheidung von RTW und KTW für „praktisch bedeutungslos” und die KTW-4-Tragenwagen, um deren Abschaffung sich eigentlich alle bemühen, für eine „besonders wertvolle Komponente” hält.

Im Hinblick auf die Versorgungsmöglichkeiten der Krankenhäuser bei einem Großschadensereignis sind realitätsbezogene Einschätzungen erforderlich und es muss Skepsis gegenüber der Hannoveraner Aussage erlaubt sein, dass die im Rahmen einer Übung (!) durchgeführte „Versorgung” von „115 Verletzte in knapp vier Stunden” in einer Erstversorgungsklinik auch im realen Einsatzfall bundesweit erfolgen kann [2]. Skepsis deswegen, weil z. B. in Frankfurt von einer Kapazität von 25 lebensrettenden Operationen in allen Krankenhäusern Frankfurts in den ersten zwei bis vier Stunden ausgegangen wird [9].

Darüber hinaus darf zusätzlich auf die erst kürzlich veröffentlichte Stellungnahme der BAND zu den zu erwartenden Notfallversorgungsproblemen in Kliniken hingewiesen werden, wie sie sich zukünftig aus der Veränderung der Krankenhausstruktur als Folge der Umstellung des Finanzierungssystems ergeben werden [10].

Es muss auch ernsthaft bezweifelt werden, dass Rettungs-/Sanitätsdienste überhaupt (personelle Ressourcen, Ausbildung, Ausstattung) und insbesondere in der Frühphase eines Großschadensereignisses noch zusätzliche personelle und materielle Kapazitäten für die geforderten „Klinik-Unterstützungsgruppen (KUG)” stellen können und wollen, sind sie doch in erster Linie für die Schadensabwicklung vor Ort zuständig und verantwortlich.

Gleiches gilt für die nach dem „Hannoverschen Konzept” erforderliche Abwicklung einer Vielzahl von zusätzlichen Sekundärtransporten aus EVK in die umliegenden Krankenhäuser. Dies aber nicht nur wegen der damit verbundenen Kapazitätsprobleme, sondern auch, weil, wie die Erfahrungsberichte aus Eschede zeigen [11], eine frühzeitige weiträumige Verteilung der Patienten möglich und sinnvoll ist. Warum diesen Grundsatz ohne zwingende Notwendigkeit infrage stellen ?

Zusammengefasst bietet das „Hannoveraner Konzept” keine Grundlage für eine grundlegende medizinische Neuorientierung in der Abwicklung von mit oder ohne überregionale Hilfeleistung zu bewältigenden Großschadensfällen und es würde damit auch nicht den zwangsläufig mit einer Änderung erforderlichen enormen Aufwand rechtfertigen.

Es ist auch zu bedauern, dass von dem bisherigen guten Usus, grundlegend abweichende Konzeptionen vor einer Publikation in den bekannten Fachgremien vorzustellen und zu diskutieren, abgewichen wurde. Es ist der BAND auch nicht bekannt, dass das „Hannoversche Konzept” im „Sanitätsdienst der Bundeswehr” und bei der „Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren auf positive Resonanz”, wie in der Pressemitteilung der MHH und der Feuerwehr Hannover dargestellt [2], gestoßen ist.

Dr. Dieter Stratmann, Vorsitzender der BAND

Literatur

  • 1 Adams H A, Mahlke L, Lange C, Flemming A. Medizinisches Rahmenkonzept für die Überörtliche Hilfe beim Massenanfall von Verletzten (Ü-MANV).  Anästh Intensivmed. 2005;  46 215
  • 2 Presseinformation der MHH und der Feuerwehr Hannover.  Anästh Intensivmed. 2005;  46 459
  • 3 Stratmann D. Strategien des Rettungsdienstes - Konsequenzen nach dem 11. September 2001.  Notfall Rettungsmed. 2003;  6 102
  • 4 Stratmann D, Beneker J, Moecke H P, Schlaeger M. Positionspapier der BAND zur präklinischen Versorgungsstrategie des Rettungsdienstes nach den Ereignissen des 11. September 2001.  Notarzt. 2003;  19 37
  • 5 Beck A, Bayeff-Fillof M, Kanz K G, Sauerland S. Algorithmus für den Massenanfall von Verletzten an der Unfallstelle.  Notfall Rettungsmed. 2005;  8 466
  • 6 Schmidt J. Leserbrief zum o. a. Beitrag von Adams HA et al.  Anästh Intensivmed. 2005;  46 448
  • 7 Habers J. Leserbrief zum o. a. Beitrag von Adams HA et al.  Anästh Intensivmed. 2005;  46 450
  • 8 Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin zum Hannoveraner Katastrophenkonzept.  Anästh Intensivmed. 2005;  46 458
  • 9 Klinkhammer G. Ethik in der Katastrophe - Wenn nicht alle gerettet werden können.  Deutsch Ärztebl. 2005;  102 B 2872
  • 10 Stratmann D, Sefrin P, Wirtz S, Bartsch A, Rosolski T. Stellungnahme der BAND zu aktuellen Problemen des Notarztdienstes (Ärztemangel, Arbeitszeitgesetz, DRG).  Notarzt. 2004;  20 90
  • 11 Hüls E, Oestern H J. Die Katastrophe von Eschede. Berlin, Heidelberg, New York; Springer-Verlag 2003

Dr. med. Dieter Stratmann

Klinikum Minden · Institut für Anästhesiologie

Friedrichstraße 17

32427 Minden

Email: dieter.stratmann@klinikum-minden.de

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