Zusammenfassung
Ob die Leistungen zur medizinischen und medizinisch-beruflichen Rehabilitation in
unserem Land „bedarfsgerecht” initiiert, bei der gesetzlichen Rentenversicherung beantragt
und von ihr gewährt werden, ist so lange nicht sicher zu entscheiden, als wir über
keine wissenschaftlich und praktisch fundierte operationale Definition von Rehabilitationsbedarf
verfügen. Traditionellerweise werden drei wenig bestimmte Kriterien angeführt: Rehabilitationsbedürftigkeit,
Rehabilitationsfähigkeit und positive Rehabilitationsprognose. Der Text erweitert
und präzisiert diese Kriterien im Licht der Evidenz-basierten Medizin/Rehabilitation
und unter Berücksichtigung sozialrechtlicher Vorgaben. Er führt den „Lübecker Algorithmus”
zur Abschätzung von Rehabilitationsbedarf im Sinne eines Screenings ein; dieser konzentriert
sich auf die Erfassung der Komplexität der eine Rehabilitation veranlassenden Gesundheitsstörung
und berücksichtigt dabei neben der Grunderkrankung selbst deren - Teilhabestörungen
bedingenden - Komplikationen und Therapienebenwirkungen, Risiko- und Prognosefaktoren,
Komorbiditäten, Motivationsprobleme und andere Kontextfaktoren. Er geht davon aus,
dass sich der Rehabilitationsprozess auf der Basis eines strukturierten Assessments
dem Grad der Komplexität der Gesundheitsstörung anpassen muss bzw. dass die für unser
System typische komplexe („ganzheitliche”) stationäre Rehabilitation nur für höher
komplexe Gesundheits- und Teilhabestörungen infrage kommt. Die Daten aus einem Projekt
des Norddeutschen Verbunds für Rehabilitationsforschung beziehen sich auf den Diabetes
mellitus Typ 2, chronisch behindernde Rückenschmerzen und chronisch obstruktive Lungenerkrankungen.
Abstract
Whether rehabilitation services are initiated, applied for and (granted by German
statutory pension funds) according to objectifyable need is uncertain as long as we
lack a scientifically valid and operationally defined concept of „rehabilitation need”.
Traditionally three criteria are mentioned: neediness, ability, and prognosis. The
text extends and specifies these criteria based on theoretical grounds, research evidence,
and sociolegal considerations. It introduces a screening algorithm to objectify and
assess individual rehabilitation needs focusing, as far as they are risk factors for
participation restrictions, on a central disorder and its complications, risk and
prognostic factors, comorbidities, motivational and other context factors. It proposes
to relate more or less complex disturbances of functional health to more or less complex
rehabilitation programmes and to indicate the typically complex („holistic”) in-patient
rehabilitation only for equally complex health impairments and participation restrictions.
Illustrative empirical data relate to three disorders, diabetes mellitus type 2, chronic
disabling back pain, and chronic obstructive lung disease.
Schlüsselwörter
Rehabilitationsbedarf - gesetzliche Rentenversicherung - Diabetes mellitus Typ 2 -
Rückenschmerzen - chronisch obstruktive Lungenerkrankung
Key words
Rehabilitation need - statutory pension insurance - Germany - diabetes mellitus type
2 - back pain - chronic obstructive lung disease
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Prof. Dr. med. Dr. phil. Heiner Raspe
Institut für Sozialmedizin · Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Beckergrube 43 - 47
23552 Lübeck
eMail: heiner.raspe@sozmed.uni-luebeck.de