Psychiatr Prax 2006; 33(4): 155-156
DOI: 10.1055/s-2005-915262
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vernetzung von forensischer Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie

The Link between Forensic and General PsychiatryMartin  Heinze1 , Friedrich  Schwerdtfeger2 , Peter  Kruckenberg3
  • 1Behandlungszentren West und Mitte, Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Bremen-Ost
  • 2Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Bremen-Ost
  • 3Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften, Universität Bremen
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Publication Date:
08 May 2006 (online)

Die strafrechtliche Gesetzgebung sieht seit dem „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher …” vom November 1933 für psychisch kranke Rechtsbrecher die Unterbringung in einem „psychiatrischen Krankenhaus” oder in einer „Entziehungsanstalt” vor. Sie konstituierte damit nicht zwingend eine eigene Institution zum Vollzug der Maßregel, sondern betrachtete in Fortführung des Gedankens des zuvor gültigen Allgemeinen Preußischen Landrechtes die damaligen Heil- und Pflegeanstalten als angemessenen Ort der Behandlung.

Während in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eine deutliche Trennung zwischen den forensischen und den anderen Bereichen der Psychiatrie vollzogen wurde, die zur Gründung selbstständiger Fachabteilungen oder Kliniken für forensische Psychiatrie führte, waren in der DDR forensische Patienten in die Allgemeinpsychiatrie integriert und wurden je nach der von ihnen ausgehenden Gefährdung entweder auf offenen Langzeitstationen oder in geschlossenen Akutbereichen untergebracht. Nach der Wende erfolgte die Umgestaltung der Institutionen nach westdeutschem Vorbild. Die Herausbildung der Forensik als eigenes Fach findet heute ihren Abschluss in der Einführung des Schwerpunkttitels „Forensische Psychiatrie”, das heißt in einer fachlichen Spezialisierung, die auf der Ausbildung zum Psychiater aufbaut, jedoch auch anerkennt, dass der forensisch tätige Psychiater heute über ein darüber hinausgehendes theoretisches und praktisches Fachwissen verfügen muss, welches sich von Fragen der Begutachtung über Verfahrensweisen des Maßregelvollzugs bis hin zur spezifischen Psychotherapie von Delinquenten erstreckt.

Gegenläufig zu den institutionellen Separierungstendenzen stellte die Psychiatrieenquete fest, dass die Durchführung des Maßregelvollzugs prinzipiell in den Zuständigkeitsbereich der allgemeinen psychiatrischen Versorgung gehöre. Den Sachverständigen schwebten einerseits Sonderbereiche innerhalb von größeren psychiatrischen Krankenhäusern vor, andererseits sollten forensische Patienten auch von der allgemeinen Verbesserung der gemeindepsychiatrischen Versorgung profitieren. Diese Forderung wurde nur teilweise umgesetzt. Burckhardt u. Rasch [1] stellten vielmehr die Ausgrenzung der straffällig gewordenen psychisch Kranken in Sonderkliniken und den zunehmenden Verlust von Zusammenarbeit mit der Allgemeinpsychiatrie fest.

Die zunehmende Trennung beider Versorgungsbereiche führt auf beiden Seiten zu Problemen. So lässt sich das Anwachsen der Patientenzahlen im Maßregelvollzug zum Teil damit begründen, dass geeignete Nachsorgeeinrichtungen für psychisch kranke Rechtsbrecher nicht vorhanden sind und die bestehenden komplementären Versorgungssysteme keine Versorgungsverpflichtung für dieses Klientel übernehmen. Weiterhin fehlt es der forensischen Psychiatrie auch institutionell an Alternativen zur stationären Versorgung. Forensische Institutsambulanzen sind nur in einzelnen Bundesländern etabliert; eine tagesklinische Behandlung stellt nur selten eine Alternative zur vollstationären Behandlung dar.

Die Allgemeinpsychiatrie hingegen unterschätzt häufig die Gefährlichkeitsproblematik und übersieht oder verdrängt eine gegebene Fremdgefährdung bei psychischen Störungen. Deliktspezifische forensische Interventionsmaßnahmen werden nicht eingeleitet, Patienten mit Gewaltneigung unzureichend versorgt und bei wiederholter Straffälligkeit forensifiziert [2]. Ein weiteres Problem stellt die fehlende Versorgung psychisch Kranker in Strafanstalten dar.

In den letzten Jahren kam es durch die chronische Überbelegung der forensischen Abteilungen indirekt wieder zu einer Annäherung zwischen forensischer Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie. In fast allen Regionen Deutschlands werden forensische Patienten mittlerweile auf psychiatrischen Regelstationen versorgt, da die Forensikplätze nicht ausreichen. Schallast et al. [3] sprechen von einem „Experiment der Wiederannäherung”. Dabei konstatieren die Autoren, dass es durchaus sinnvolle Indikationen für eine Behandlung forensischer Patienten in der Allgemeinpsychiatrie gibt, insbesondere für akut psychotische Patienten und Patienten mit Wiedereingliederungsanliegen. Die Belegung sei jedoch nicht von psychiatrischer Indikationsstellung bestimmt; vielmehr würden sich relativ unkontrolliert Streubetten unspezifischer Art auf den allgemeinpsychiatrischen Stationen ausbilden.

Ein Ausweg aus den hier beschriebenen Problemlagen kann einzig eine enge Verzahnung von forensischer Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie bieten. Dieses Anliegen spiegelt auch die neuere Literatur wider: So plädiert von der Haar [4] angesichts der Konkurrenz zwischen beiden Bereichen für eine Rückbesinnung auf sozialpsychiatrische Werte in der Forensik. Kreutzberg [5] warnt vor Gefahren einer Isolierung der forensischen Psychiatrie von den Zielen der sozialen Psychiatrie. Besonders unter dem Aspekt der Nachsorge plädieren Rosemann [6] und Dönisch-Seidel u. Hollweg [7] für eine enge Integration der Forensik in die gemeindepsychiatrische Versorgungskette.

Eine enge Vernetzung beider Bereiche kann folgende Ziele verfolgen: In der allgemeinen Psychiatrie muss rechtzeitig mit forensischer Kompetenz eine mögliche Gefährdung erkannt und behandelt werden mit dem Ziel der Prävention von Straftaten und der damit verbundenen sozialen Desintegration des Patienten. In der Forensik hingegen soll das Ziel „Besserung vor Sicherung” wieder stärker in den Vordergrund treten. Die Einengung des Blickwinkels auf das gesellschaftlich geforderte Null-Risiko behindert die psychosoziale Rehabilitation der Patienten unangemessen.

Ein vorrangiges Ziel bei der Vernetzung beider Bereiche ist die gemeinsame und wechselseitige Qualifizierung der Mitarbeiter. Wünschenswert sind insbesondere Rotationen. Sie sollen den in der Forensik Tätigen helfen, eine gemeindepsychiatrische Sichtweise zu gewinnen und die rehabilitative Orientierung zu stärken. Die in der Allgemeinpsychiatrie Tätigen sollen lernen, forensische Problemlagen früher zu erkennen und aktiv auf allen Versorgungsebenen anzugehen. Ziel sollte es dabei sein, forensischen Patienten das gemeindepsychiatrische Versorgungssystem zu erschließen ohne gesteigerte gesellschaftliche Risiken einzugehen.

Im Fazit dieser Überlegungen sind folgende Forderungen aus Sicht beider psychiatrischer Bereiche zu erheben:

Forensische Bereiche sollten regelmäßig eine getrennte Organisationseinheit darstellen, jedoch nur an gemeinsamen Standorten mit der Allgemeinpsychiatrie. Zu vermeiden sind sowohl Streubetten auf allgemeinpsychiatrischen Stationen als auch isolierte Forensikstandorte. Die komplementären Anbieter einer Versorgungsregion müssen die Versorgungsverpflichtung auch für forensische Patienten im Rahmen eines gemeindepsychiatrischen Verbundes übernehmen. Ebenso ist die Betreuung psychisch Kranker in Strafanstalten unter Federführung der forensischen Psychiater sicherzustellen. An allen Standorten müssen in enger Vernetzung mit den psychiatrischen Institutsambulanzen bedarfsgerecht finanzierte forensische Ambulanzen entstehen. Nur durch diese enge Kooperation kann eine sinnvolle Präventionsarbeit geleistet werden. Sowohl ambulante forensisch-psychiatrische Arbeit wie Präventionsprojekte bedürfen innovativer Finanzierungsmodelle unter Einbeziehung der Krankenkassen. Für die Tätigen in der Allgemeinpsychiatrie muss in allen Arbeitsbereichen jederzeit eine Beratung durch forensisch geschulte Kollegen und vice versa möglich, d. h. organisatorisch vorbereitet sein. Spezifische ebenso wie vernetzte Fortbildungsprogramme und wechselseitige Rotationen sind essenziell.

Zusammenfassend vertreten wir die Auffassung, dass eine tief greifende Verbesserung von Prävention, Behandlung und Nachsorge von psychisch kranken Menschen mit forensischen Problemen nur durch eine konzeptionell durchdachte, organisatorisch abgestimmte, mit intensiven Qualifizierungsmaßnahmen verbundene und angemessen finanzierte Vernetzung von Forensik und Allgemeinpsychiatrie möglich ist.

Literatur

  • 1 Burckhardt A, Rasch W. Ausgrenzung der psychisch kranken Straftäter in Sonderkliniken - Ende der Abschiebepraxis?.  Psychiat Prax. 1985;  12 73-77
  • 2 Garlipp P, Ziegenbein M, Haltenhof H. Zwischen Forensifizierung und Neglect? - Zum psychiatrischen und juristischen Umgang mit gewalttätigen schizophrenen Menschen in der Allgemeinpsychiatrie.  Nervenheilkunde. 2003;  22 514-519
  • 3 Schalast N, Balten A, Leygraf N. Zur Unterbringung forensischer Patienten in der Allgemeinpsychiatrie.  Nervenarzt. 2003;  74 252-258
  • 4 Haar M von der. Quo vadis Forensische Psychiatrie?.  WsFPP. 2002;  9 7-17
  • 5 Kreutzberg K. Die Paradigmen der Psychiatrie und der Maßregelvollzug.  Recht und Psychiatrie. 1999;  1 28-35
  • 6 Rosemann M. Integration forensischer Patienten in die gemeindepsychiatrische Versorgung.  Recht und Psychiatrie. 2003;  1 10-14
  • 7 Dönisch-Seidel U, Hollweg T. Nachsorge und Wiedereingliederung von (bedingt) entlassenen Maßregelvollzugspatienten in Nordrhein-Westfalen.  Recht und Psychiatrie. 2003;  1 14-17

Dr. Martin Heinze

Klinikum Bremen-Ost

Züricher Straße 40

28325 Bremen

Email: Martin.Heinze@klinikum-bremen-ost.de

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