Sprache · Stimme · Gehör 2005; 29(3): 97-98
DOI: 10.1055/s-2005-873116
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Sprache und Bildgebung”

Speech and ImagingJ. Noth1
  • 1Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Aachen
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Publication Date:
29 September 2005 (online)

Von den sensomotorischen Leistungen des Menschen ist die Sprache die am weitesten entwickelte und komplexeste Errungenschaft - allenfalls noch vergleichbar mit der Greiffunktion der Hand. Die an der Sprache beteiligten kortikalen und subkortikalen neuronalen Netze sind weit über das Gehirn verteilt, und wichtige Basisfunktionen des Gehirns wie Aufmerksamkeitsprozesse, Gedächtnisfunktionen und Emotionalität greifen steuernd und modulierend in die Sprachproduktion ein. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass es ein weiter Weg ist, die neurophysiologischen Grundlagen der Sprache ganz zu erfassen. Dazu kommt, dass Sprache nur am Menschen untersucht werden kann. Die sonst so aufschlussreichen neurophysiologischen Untersuchungen an nicht-menschlichen Primaten können hier nicht eingesetzt werden.

Trotzdem gibt es erfreuliche Fortschritte in der Aufdeckung der neurobiologischen Grundlagen der Sprache, wozu die bildgebenden Verfahren ganz wesentlich beigetragen haben. Allerdings hat sich gezeigt, dass der Einsatz der rein morphologischen Bildgebung zur Lokalisation von kortikalen und subkortikalen Läsionen keine wesentlich neuen Erkenntnisse geliefert hat, die über die klassischen, neuropathologisch begründeten Ergebnisse der Aphasieforschung hinausgingen. Im Gegenteil, wichtige grundlegende Fragen der „Neuroanatomie” der Aphasien blieben trotz des Einsatzes dieser Methoden weiterhin unbeantwortet oder widersprüchlich. Während zum Beispiel Kreisler und Mitarbeiter [1] mittels MRI postulierten, dass aphasische Syndrome aufgrund der Lokalisation der Läsionen bei dem größten Teil der untersuchten Patienten korrekt klassifiziert werden können, zweifeln Willmes und Poeck [2] aufgrund der Ergebnisse einer retrospektiven computertomographischen Studie grundsätzlich an der Lokalisierbarkeit aphasischer Syndrome.

So blieb es den funktionellen bildgebenden Verfahren vorbehalten, einen wichtigen Durchbruch zu schaffen, da es mit ihnen erstmals möglich wurde, am gesunden menschlichen Gehirn Sprachfunktionen „sichtbar” zu machen. Besonders attraktiv - wie in dieser Sonderausgabe gezeigt wird - ist die Kombination mit der transkortikalen Magnetstimulation (TMS), mit der virtuelle kortikale Läsionen relativ umschrieben gesetzt und untersucht werden können. Damit ist es möglich, den akuten Einfluss von kortikalen Funktionsstörungen auf die Leistung bei sprachlichen Aufgaben zu untersuchen und damit die Fallstricke zu umgehen, die sich bei Untersuchungen von Patienten aufgrund der nach der Läsion auftretenden Reorganisationsprozesse ergeben können. In der vorliegenden Sonderausgabe werden aus der großen Zahl der in den letzten Jahren zur Neurobiologie der Sprache publizierten funktionell-bildgebenden Studien einige der wichtigsten aus dem deutschsprachigen Raum herausgegriffen, so dass der Leser einen aktuellen Überblick über den Stand dieses sich rasch entwickelnden Forschungsgebietes erhält.

In dem einleitenden Beitrag „Einführung in die funktionell bildgebenden Verfahren und die Datenanalytik” von Pöppel und Krause wird ein umfassender Überblick über die Grundlagen, die Methodik und die Datenanalyse aller gebräuchlichen bildgebenden Verfahren geliefert und ihre Vor- und Nachteile kritisch beleuchtet. Sparing, Meister und Mottaghy geben eine Übersicht über die Einsatzmöglichkeiten der TMS zur anatomischen Lokalisation und funktionellen Relevanz neuronaler Sprachnetzwerke und zeigen, wie eng Sprach- und Handmotorik funktionell verbunden sind. Der Beitrag von Frisch, Kotz und Friederici zum Thema „Bildgebende Verfahren und die Verarbeitung syntaktischer Information” befasst sich mit der Frage, ob durch den Einsatz funktionell-bildgebender Verfahren Aussagen über grundlegende Fragen des syntaktischen Sprachverständnisses möglich sind. Die Autoren zeigen, dass eine Zuordnung zur Broca-Area für einige syntaktische Anforderungen zwar nachgewiesen werden kann, eine verläßlichere Aussage aber nur unter zusätzlicher Berücksichtigung dynamischer Aspekte, z. B. durch Einsatz zeitsensitiverer hirnelektrischer Methoden wie EKP oder MEG, möglich ist. Ackermann, Hertrich und Mathiak widmen Ihren Beitrag einem der Sprachwahrnehmung vorgeschalteten Prozess, und zwar der Lautwahrnehmung. Es geht um die Frage, ob Lautwahrnehmung - wie bisher angenommen - streng bilateral-symmetrisch abläuft oder schon eine beginnende Lateralisierung aufweist. Aufgrund einer eingehenden Literaturübersicht und unter Berücksichtigung eigener Daten kommen die Autoren zu dem Schluss, dass einige der häufigsten Silbenstrukturen, die Plosiv-Vokal Verbindungen, eine Bevorzugung zur Enkodierung in der sprach-dominanten Hemispäre zeigen und so der Boden für die Sprachlateralisierung in der kindlichen Sprachentwicklung bereitet werden könnte. Die Einbeziehung eines „erweiterten Sprachnetzwerkes” unter Beteiligung der nicht-sprachdominanten Hemisphäre in Sprachverarbeitungsprozesse, die z. B. inhaltliche Interpretationen und Verknüpfungen von aufeinanderfolgenden Äußerungen erfordern, stehen im Mittelpunkt des Artikels „Sprachverstehen im Kontext: Bildgebende Studien zu Kohärenz und Pragmatik” von Ferstl und von Cramon. Der Beitrag von Grande und Huber beschäftigt sich mit der Reorganisation von sprachlichen Funktionen nach akuten, die linkshemispärischen Sprachareale betreffenden Läsionen. Dabei gehen die Autoren - auch anhand eigener Untersuchungen - besonders auf den Zeitverlauf der Reorganisationsprozesse ein und berücksichtigen dabei auch typische aphasische Symptome, die in früheren Untersuchungen vernachlässigt wurden. So schließt sich der Bogen von den methodischen Grundlagen der funktionellen Bildgebung über deren Anwendung auf die Analyse physiologischer Sprachabläufe bis hin zur Untersuchung von Reorganisationsprozessen an Aphasiepatienten. Bevor ich jedoch noch mehr über den Inhalt der aufgeführten Beiträge verrate, möchte ich den Leser auffordern, sich selbst einen Überblick über das rasch expandierende Forschungsgebiet der funktionellen Bildgebung der Sprache zu verschaffen.

Literatur

  • 1 Kreisler A, Godefroy O, Delmaire C, Debachy B, Leclercq M, Pruvo J -P, Leys D. The anatomy of aphasia revisited.  Neurology. 2000;  54 1117-1123
  • 2 Willmes K, Poeck K. To what extent can aphasic syndromes be localized?.  Brain. 1993;  116 1572-1540

Prof. Dr. med. Johannes Noth

Klinik für Neurologie

Universitätsklinikum Aachen

Pauwelsstr. 30

52057 Aachen

Email: jnoth@ukaachen.de

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