Zusammenfassung
Fragestellung: Forschungen zum „Dritten Reich“ beschäftigten sich bislang kaum mit Fragen nach dem
medizinischen Alltag in Wissenschaft und Krankenversorgung: Welche Patienten wurden
wann und wie lange in den Kliniken behandelt? Welche Diagnosen und Therapien waren
in der Praxis üblich? Wie änderten sich diese Parameter während des Zweiten Weltkriegs
und danach? Inwieweit wirkten sich wissenschaftliches Interesse und ideologische Vorgaben
auf die klinische Praxis aus? Material und Methodik: Im Rahmen eines Pilotprojektes wurden drei Jahrgänge von Patientinnenakten der Kölner
Universitätsfrauenklinik (1936, 1941, 1960) im chronologischen Längsschnitt statistisch
ausgewertet sowie Studien zur personellen, institutionellen und wissenschaftlichen
Situation mithilfe von Akten des Historischen Archivs der Stadt Köln und Forschungsliteratur
der Zeit durchgeführt. Ergebnisse: Es zeigte sich, dass die Klinik nach 1934 mit einem onkologisch-radiologischen Schwerpunkt
zunächst expandierte, im Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen wurde und sich nach
1945 zu einem spezialisierten Zentrum wandelte, das die Regelversorgung der Bevölkerung
nicht mehr gewährleisten musste. 1933 bis 1945 erfolgte ein Teil der wissenschaftlichen
Produktion unter dem Einfluss der NS-Ideologie. Aus den Patientinnenakten wurde deutlich,
dass das Alter der Patientinnen über den Untersuchungszeitraum hinweg konstant blieb,
ihre soziale Stellung sich aber vor allem während des Krieges deutlich wandelte: Die
Zahl der von städtischer Wohlfahrt Abhängigen sank dramatisch, die Zahl der Berufstätigen
nahm deutlich zu. Die Dauer der stationären Aufenthalte war über die Jahre kontinuierlich
rückläufig, besonders bei chronischen Erkrankungen während des Krieges. Die Zahl der
Aborte nahm deutlich ab, auch wenn sie 1960 immer noch an erster Stelle der Diagnosen
stand. Sterilisationen (insbesondere geistig Behinderter) spielten lediglich 1936
eine größere Rolle, dort aber in höherem Ausmaß als bisher bekannt. Deutlich wird
der Wandel der universitären Gynäkologie vom eingeschränkt konservativen zum fast
ausschließlich operativen Fach. Schlussfolgerung: Die historische Auswertung von Patientenakten bietet einen verhältnismäßig neuen
Zugang zur medizinischen Praxis vergangener Zeiten. Sie dokumentiert im chronologischen
Längsschnitt eindrucksvoll Kontinuität und Veränderung und belegt im Falle des „Dritten
Reiches“ die subtile Verbindung von Politik und Heilkunde im Alltag einer Klinik.
Abstract
Purpose: Historical work on the “Third Reich” has not generally dealt with the everyday medical
life of research and patient care. Which patients came to the clinics at which times
and how long did they stay? What were the common diagnoses and therapies? How did
these change during and after the Second World War? To what extent did ideological
prejudice effect clinical practice? Material and Methods: As part of a pilot project, patient records from Cologne's University Women's Clinic
from three years (1936, 1941, 1960) were evaluated longitudinally together with studies
of personnel, institutions and research based on records from Cologne's City Archives
and contemporary research. Results: These sources reveal that after 1934 the Clinic initially had an oncological and
radiological emphasis, was then seriously hit by the war and after 1945 became a specialty
center no longer responsible for providing simple hospital care. A portion of the
research conducted between 1933 and 1945 was influenced by National Socialist ideology.
Patient records document that while the average age of patients for the years examined
remained constant, their social position varied, particularly during the war. The
number of urban poor treated sank dramatically and the number of gainfully employed
rose. The length of hospital stays continually decreased over the years, particularly
as regards chronic illnesses during the war. The number of abortions declined sharply,
although in 1960 they still accounted for the greatest number of diagnoses. Sterilization,
particularly of the mentally handicapped, only played a role in 1936, but in that
year it was more extensive than has been previously reported. The transformation of
academic research gynecology from limited conservative to almost exclusively operative
practice is hereby made clear. Conclusion: Patient records offer a new perspective on past medical practice. They chronologically
document impressive continuity and change. In the case of the “Third Reich”, they
demonstrate the subtle link between politics and health care in the everyday business
of a clinic.
Schlüsselwörter
Geschichte der Gynäkologie - Patientenakten - Institutionspraxis - Zweiter Weltkrieg
- Drittes Reich
Key words
History of medicine, 20th century - gynecology, history - patient medical records
- institutional practice - World War II
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Priv.-Doz. Dr. med. Dr. phil. Daniel Schäfer
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Joseph-Stelzmann-Straße 9, Geb. 42
50931 Köln
eMail: daniel.schaefer@uni-koeln.de