Z Geburtshilfe Neonatol 2005; 209 - V77
DOI: 10.1055/s-2005-871409

Neuromuskuläre Erkrankungen als Ursache neonataler Atemstörungen

J Dinger 1, U Reuner 2, S Sponholz 1, M von der Hagen 1
  • 1Klinik u. Poliklinik f. Kinder- u. Jugendmedizin
  • 2Klinik u. Poliklinik für Neurologie,TU Dresden, D

In die Differentialdiagnose der Atemstörungen von Früh- und Neugeborenen müssen neben pulmonalen, kardialen und zentralnervösen Störungen auch neuromuskuläre Erkrankungen einbezogen werden. Pränatal manifestieren sich diese Krankheitsbilder häufig durch verminderte Kindsbewegungen, ein Polyhydramnion sowie eine intrauterine Wachstumsretardierung. Postnatal sind die Neugeborenen asphyktisch und entwickeln häufig eine ausgeprägte Atemnotsymptomatik. Die muskuläre Hypotonie, Pneumonien und Atelektasen machen oft eine Langzeitbeatmung erforderlich. Die Ursachen der Atemstörungen können neurogen, myogen oder Ausdruck einer gestörten neuromuskulären Übertragung sein. Wir möchten anhand ausgewählter Krankheitsverläufe auf typische Symptome sowie notwendige diagnostische und therapeutische Maßnahmen aufmerksam machen.

Bei der infantilen spinalen Muskelatrophie vom Typ Werdnig-Hoffmann handelt es sich um eine erbliche degenerative Erkrankung der motorischen Vorderhornzellen des Rückemmarks. Generalisierte Muskelhypotonie und Areflexie bei unbeeinträchtigter intelektueller Entwicklung sind die typischen Symptome. Eine therapierefraktäre respiratorische Insuffizienz kann Behandler und Eltern vor schwierige therapeutische und ethische Entscheidungen stellen.

Die transiente neonatale Myasthenia gravis tritt in etwa 10–20 Prozent der Neugeborenen von Müttern mit Myasthenia gravis auf, da die für die mütterliche Erkrankung verantwortlichen Antikörper die Plazentaschranke überwinden können. Wenige Stunden bis maximal drei Tage nach einer meist komplikationslosen Geburt treten erste Anzeichen der Muskelschwäche in Form von Schluck- und Saugstörungen, leisem Schreien und ausdrucksarmer Mimik auf. Da in bis zu 30 Prozent der Fälle auch respiratorische Komplikationen auftreten, die eine maschinelle Beatmung erforderlich machen, ist eine Entbindung im Perinatalzentrum anzustreben. Bei schweren Verlaufsformen entstehen bereits intrauterin Gelenkkontrakturen (Arthrogryposis multiplex congenita) mit hohem Risiko einer schlechten Prognose. Die Schwere der Erkrankung eines unserer Patienten mit Gelenkkontrakturen, der prolongierte Verlauf und das fehlende Ansprechen auf die Therapie stehen in deutlichem Kontrast zu den vielen Beobachtungen von benigner transitorischer neonataler Myasthenie.

Desweiteren möchten wir über vier Frühgeborene berichten, bei denen im Rahmen der diagnostischen Abklärung der respiratorischen Insuffizienz bei ausgeprägter Muskelhypotonie die Diagnose einer kongenitalen myotonen Dystrophie gestellt werden konnte. Facies myopatika und die Myotonie der Hand der Mutter bei der Begrüßung gaben den entscheidenden diagnostischen Hinweis. Durch neurologische Untersuchung der Mütter konnte die bisher unbekannte Diagnose bei den Müttern gestellt werden, wobei im EMG eine klassische myotone Entladung gefunden wurde. Molekulargenetisch konnte die Diagnose einer myotonen Dystrophie bei allen Müttern und Kindern bestätigt werden.