Rehabilitation (Stuttg) 2005; 44(6): 373-378
DOI: 10.1055/s-2005-867005
Bericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kolloquium „Der rechtliche Rahmen der evidenzbasierten Rehabilitation” am 25. April 2005 in Lübeck

Colloquium on „The Legal Framework of Evidence-Based Rehabilitation” April 25, 2005 in LübeckP.  Köster1 , F.  Welti1 , H.  Raspe2
  • 1Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
  • 2Institut für Sozialmedizin im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
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Publication History

Publication Date:
01 December 2005 (online)

Am 25. April 2005 fand in Lübeck unter der Leitung von PD Dr. Felix Welti vom Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Universität Kiel (CAU), mit Unterstützung der Landesversicherungsanstalt (LVA) Schleswig-Holstein und des Norddeutschen Verbunds für Rehabilitationsforschung (NVRF) ein Kolloquium zum rechtlichen Rahmen der evidenzbasierten Rehabilitation statt.

Welti stellte zuerst die Arbeitshypothese dar, dass die Methode der Evidenzbasierung auch für den rechtlichen Rahmen der Rehabilitation in Deutschland erhebliche Bedeutung hat. Welti führte weiter aus, dass die Leistungen zur Teilhabe in § 4 Abs. 1 SGB IX als die notwendigen Sozialleistungen definiert seien, anhand derer die dort genannten Ziele zu erreichen seien. Für die Beurteilung der Notwendigkeit von Sozialleistungen bedürfe es eines prognostischen Urteils, in das Erfahrungswissen in wissenschaftlich kontrollierter Form mit einfließen müsse. Der Notwendigkeit könne man sich über den Begriff des Geeigneten nähern, welcher im öffentlichen Recht logische Vorstufe zu Notwendigkeit und Erforderlichkeit - gewöhnlich Synonyma - sei. Der letzte Teil des Dreischritts einer Verhältnismäßigkeitsprüfung sei die Prüfung der Angemessenheit (Geeignetheit - Notwendigkeit - Angemessenheit). Eine Leistung sei dann geeignet, wenn sie das angestrebte Ziel fördern könne. Zwingende Voraussetzung dafür sei, so Welti, dass sie überhaupt eine Wirkung (die Wirksamkeit) haben könne und diese Wirkung zur Zweckerreichung (der Zweckmäßigkeit) führe. An dieser Stelle bedürfe es des kontrollierten Erfahrungswissens bestmöglicher Evidenz zur Beantwortung der sich daraus ergebenden Fragen: Wie zum Beispiel wird mit welcher Leistung welches gesetzliche Ziel verfolgt? oder: Welcher Grad der Wahrscheinlichkeit von Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit wird gefordert? Die Geeignetheit sei für die Notwendigkeit also notwendige, wenn auch nicht hinreichende, Bedingung. Es bedürfe des Weiteren einer Kausalität zwischen Leistung und Erfolg. Um diese Kausalität auszufüllen, müsse auf bestmögliche Evidenz zurückgegriffen werden, denn mit ihr könne - durch methodisch geeignete Vergleichsstudien - bestimmt werden, ob in vergleichbaren Fällen mit vergleichbaren Leistungen das Ziel mit gleicher Wahrscheinlichkeit erreicht werden konnte. Besonders beachtenswert sei bei der Prüfung der Notwendigkeit auch die Gegenüberstellung des hypothetischen Alternativverlaufs ohne Leistung.

Zu dem Begriff der Erforderlichkeit der Leistung führte der Referent aus, dass dieser in den §§ 26 und 33 SGB IX spezifisch auf die Leistungsgruppen der medizinischen Rehabilitation und der Teilhabe am Arbeitsleben bezogen sei. Ein eigenständiger Sinn dieses Prüfungsschrittes könne darin gesehen werden, dass hier speziell mögliche schädliche Effekte einer medizinischen oder beruflichen Maßnahme in die Betrachtung mit einbezogen werden sollten, um einen Nettonutzen ermitteln zu können. Die Erforderlichkeit habe dabei auch eine notwendig generalisierte Komponente, wenn sie auf der wissenschaftlichen Basis der Evidenzbasierung beurteilt werde.

Im Ergebnis bleibe festzuhalten, so Welti, dass die notwendigen und erforderlichen Leistungen nicht ohne kontrollierten Rückgriff auf Erfahrungswissen bestimmt werden können. Wenn Evidenzbasierung eine Methode zur systematischen wissenschaftlichen Aufbereitung von Erfahrungswissen sei, dann sei sie hier unverzichtbar. Evidenzbasierung solle systematisch aufzeigen, welche Handlungsformen sich als wirksam erwiesen haben. Dafür bedürfe es der Definition der Ziele.

Ziel der Leistungen sei die Teilhabe. Dabei zeige § 4 Abs. 1 SGB IX die vielfältigen Ziele der Leistungen zur Teilhabe auf. § 4 SGB IX beziehe sich dabei auf die in § 2 Abs. 1 SGB IX enthaltene Definition einer Behinderung, welche auf die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) bezogen sei. Folglich könne die Leistung auf der Ebene der gesundheitlichen Beeinträchtigung oder auf der Ebene von die Teilhabe störenden Kontextfaktoren ansetzen. Es sei daher notwendig, Teilhabeziele vorab zu definieren, um aufzeigen zu können, ob Evidenz dafür bestehe, dass eine Leistung die Teilhabe verbessere. Daher müsse geprüft werden, ob die für die evidenzbasierte Medizin benutzten Methoden auch auf die evidenzbasierte Rehabilitation zu übertragen seien.

Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe vom Institut für Sozialmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) stellte zunächst Fragen und Thesen zur Normlage nach SGB IX, VI und V. Weiterhin müsse man die Frage stellen, welche Evidenz wofür nötig oder richtig sei. Der Referent nannte als zu berücksichtigende Punkte die Frage nach der Geltung des „best evidence rule” oder die Forderung der bestmöglichen Evidenz aus randomisierten kontrollierten Studien. In welche Richtung solle die Evidenz gehen, in Richtung Wirksamkeit, Nutzen, Notwendigkeit, Wirtschaftlichkeit oder in Richtung Nachhaltigkeit? Dafür müsse auch nach den relevanten Nutzenindikatoren und dem - relativen oder absoluten - Ausmaß des Nutzens gefragt werden. Zudem sei zu untersuchen, ob Evidenz für generelle, lokale oder individuelle Wirksamkeit gefunden werden solle. Dabei müssten die Folgen medizinischer Intervention beachtet werden. Effekte müssten gegenübergestellt und es müsse geprüft werden, ob Effekte auf die Intervention rückführbar seien. Beachtenswert seien zudem die Zweckmäßigkeit und Eignung in Hinblick auf die Zielorientierung. Bei dem Nutzen stelle sich die Frage nach verschiedenen Perspektiven, relevanten Zielen, Effektstärken, Eintrittswahrscheinlichkeit und Nachhaltigkeit. Erst dann werde es möglich werden, einen Nettonutzen zu finden, welcher sich aus dem Nutzen abzüglich schädlicher Effekte ergebe. Daraus werde sich der subjektive Erfolg anhand subjektiver Ziele, Zufriedenheit oder globaler Urteile ergeben. Es stelle sich im Verhältnis der Evidenz und der individuellen Rehabilitationslage die Frage, ob eine überzeugende Evidenz zu Wirksamkeit und Nutzen einer rehabilitativen Leistung existiere. Wenn ja, so sei es möglich, mit den zugrunde liegenden Studien eine Schätzung des mittleren Effekts vorzunehmen, mithin eine mittlere Rehabilitationsprognose aufzustellen. Würden sich Belege für keinen oder zu geringen Nutzen finden, so müsse man entweder aufhören oder hypothesengeleitete Änderungen initiieren und/oder evaluieren. Würde sich keine belastbare Evidenz ergeben, so bliebe die Aufgabe, Studien anzuregen, zu finanzieren, durchzuführen oder die Evidenz international zu suchen und dann die Übertragbarkeit zu prüfen.

Marion Götz vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) führte aus, dass Evidenzbasierung gesetzlich weder im Allgemeinen Teil des SGB IX noch im SGB VI erwähnt werde. Lediglich implizit sei sie aus den Anforderungen an eine wirksame und qualitätsgesicherte Leistungserbringung in der medizinischen Rehabilitation zu entnehmen. Die Verantwortlichkeit für die Berücksichtigung vorliegender Evidenz sei hingegen im Bereich der akuten Krankenbehandlung (SGB V) klar Krankenkassen und Leistungserbringern zugeteilt. Im SGB IX sei dies nicht so klar. Gleichwohl bestehe eine Verantwortung der Träger, da sie für die angemessene Leistung verantwortlich seien (§ 17 Abs. 1 SGB IX). Gelockert sei diese nur bei der Leistungserbringung in Form des persönlichen Budgets (§ 17 Abs. 2 SGB IX). Um den Inhalt der Evidenzbasierung zu konkretisieren, bedürfe es klarer Leistungsziele. So unterscheide sich Evidenzbasierung der medizinischen Rehabilitation von der der Akutmedizin durch die weiter gefassten Leistungsziele. Das SGB IX erweitere die Ziele. Im Bereich der Rentenversicherung enthalte § 9 SGB VI weitere Ziele, nämlich Erhalt und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit.

Für die medizinische Rehabilitation sei die Evidenzbasierung implizit aus den Vorschriften der qualitätsgesicherten Leistungserbringung zu entnehmen. So seien die Rehabilitationsträger gemäß § 19 SGB IX dafür verantwortlich, dass die erforderlichen Dienste und Einrichtungen in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung stünden. Auch hier bestehe ein Unterschied zum Recht der akuten Krankenbehandlung, in dem die Verbände der Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen eine gemeinsame Sicherstellungsverantwortung hätten (§ 72 SGB V). Im Rehabilitationsrecht seien die rechtlichen Verpflichtungen der Dienste und Einrichtungen durch die nach § 21 SGB IX zu schließenden Verträge begründet. Die Verantwortung der Rehabilitationsträger komme weiter durch § 20 Abs. 1 SGB IX zum Ausdruck, wonach gemeinsame Empfehlungen zur Qualitätssicherung vereinbart werden sollen. Diese gemeinsame Empfehlung Qualitätssicherung ist am 1.7.2003 in Kraft getreten.

Götz bezog sich auf die Vorgaben des § 21 SGB IX zum Inhalt der Verträge. Die Rentenversicherung habe Kriterien für einheitliche Grundsätze für Verträge beschlossen. Man werde diese mit den anderen Rehabilitationsträgern abstimmen und auch die Leistungserbringer beteiligen. Kriterien seien u. a. die verpflichtende Teilnahme am Qualitätssicherungsprogramm der Rentenversicherung zur externen Qualitätssicherung sowie ein Qualitätsmanagementbeauftragter zur internen Qualitätssicherung. Schließlich kam Götz auf die Verantwortlichkeit für die Forschung zu sprechen. Die Verantwortung für die Produktion von Evidenzbasierung und für ihre Finanzierung könne außerhalb des Ausbildungs- und Forschungswesens entsprechend § 19 SGB IX bei Bund, Ländern und den Rehabilitationsträgern gesehen werden.

Im Anschluss referierte Harry Fuchs zum Thema „Die gemeinsame Verantwortlichkeit der Rehabilitationsträger”. Fuchs begann mit der Darstellung der gesetzlichen Grundlagen für die gemeinsame Verantwortung der Rehabilitationsträger für die evidenzbasierte Rehabilitation. So seien die Rehabilitationsträger verantwortlich für die Feststellung des Leistungsbedarfs (§ 10 SGB IX), für einheitliche Grundsätze eines Assessmentverfahrens (§ 12 SGB IX), bedarfsgerechte Dienste und Einrichtungen (§ 19 SGB IX), gesicherte Qualität der Leistungen und vergleichende Qualitätsanalysen (§ 20 SGB IX) und Versorgungsverträge nach einheitlichen Grundsätzen (§ 21 Abs. 2 SGB IX), wobei den Leistungserbringern hinsichtlich der Qualitätsanforderungen an die Ausführung der Leistungen ausdrücklich ein vertragliches Mitgestaltungsrecht eingeräumt sei. Dabei seien die Instrumente dieser gemeinsamen Verantwortung gemeinsame Empfehlungen und Verträge einschließlich Bundesrahmenverträge (§ 21 Abs. 2 SGB IX). Fuchs wies ausdrücklich auf den Unterschied des SGB IX zum SGB V hin. Im SGB V sei der Erbringer für Qualität und Leistung verantwortlich, im SGB IX der Leistungsträger. Es sei Aufgabe der Rehabilitationsträger, über die nach Gegenstand, Umfang und Ausführung einheitliche Leistungserbringung (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX; Rehabilitationsleitlinien bzw. -pfade), ein gemeinsames Assessment zur Feststellung des Leistungsbedarfs (Abs. 1 Nr. 4), aber nach § 13 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX auch über die Zielgruppen (in welchen Fällen) sowie die gruppenspezifischen Leistungsinhalte (in welcher Weise) gemeinsame Empfehlungen zu vereinbaren. Damit enthalte das SGB IX unmittelbare Indikatoren für die Evidenzbasierung der Leistungen, die zudem an operationalisierbaren Maßstäben orientiert seien. Als Maßstäbe nannte Fuchs - immer bezogen auf die Ziele der §§ 1, 4 Abs. 1 SGB IX - die Zielgerichtetheit, die Bedarfsgerechtigkeit, die Funktionsbezogenheit, die Wirksamkeit, die Wirtschaftlichkeit, die Qualität und die Eignung der für die Ausführung in Anspruch genommenen Einrichtungen. Ziel der Rehabilitationsleistungen sei unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles die Ausrichtung auf die entsprechende umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Besonders erwähnenswert sei, dass die Ziele (§§ 1, 4 Abs. 1, 10 Abs. 1 SGB IX) für alle Rehabilitationsträger zusätzlich zu deren spezifischen Zielen gelten. Fuchs stellte klar, dass die Verantwortung des aktuell zuständigen Trägers erst mit Beginn der Leistung des nachfolgenden Trägers ende - und nicht etwa bereits mit der Feststellung seiner Zuständigkeit. Zur Wirksamkeit der Leistungen wies er außerdem darauf hin, dass das SGB IX als einziges Sozialgesetz diesen Maßstab kenne, der operationalisierbar sei und im Zusammenhang mit § 4 Abs. 2 S. 1 SGB IX (Leistungsgewährung nur zulässig bei positiver Prognose bezogen auf die Erreichbarkeit von Teilhabezielen - bisher: Rehabilitationsprognose) eine unmittelbare Aufwand-Nutzen-Relation bilde, d. h. von hoher ökonomischer Relevanz sei. Die Rehabilitationsträger müssten die Teilhabeorientierung endlich anwenden, um so dem Paradigmenwechsel durch die Einführung des SGB IX im Jahre 2001 gerecht zu werden. Seitdem habe die medizinische Rehabilitation nicht mehr nur das Ziel der bestmöglichen Gesundheit, sondern darüber hinausgehend das der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.

In der Diskussion ging es vor allem um die unterschiedliche Wahrnehmung der Verantwortung der Rehabilitationsträger in der Realität. Einigkeit bestand darüber, dass dies in Zukunft stärker der Fall sein müsse als bisher. Die Gründe für die mangelnde Umsetzung der gesetzlich auferlegten Verantwortung wurden dabei verschieden beurteilt.

Anschließend referierte Dr. Welti zum Thema „Die rechtliche Verpflichtung zur Evidenzbasierung im Einzelfall”. Welti stellte zuerst die Frage, ob Dienste und Einrichtungen der Rehabilitation verpflichtet seien, im Einzelfall eine Leistung auf der Grundlage bestmöglicher Evidenz zu erbringen und welche Folgen eine solche Verantwortlichkeit habe. Da der Begriff der Evidenzbasierung - mit der Ausnahme des § 137 f. SGB V - gesetzlich nicht erscheine, bedürfe es anderer rechtlicher Begriffe. Im Sozialrecht sollen, so Welti, die Rehabilitationsträger - anders als in einer möglichen privatrechtlichen Rehabilitation - nur die notwendigen Leistungen mit dem Zweck der Teilhabe erbringen. Was nicht notwendig sei, dürfe nicht erbracht werden. Dabei sei die sozialrechtliche Geeignetheit und Notwendigkeit durch das kollektive Erfahrungswissen der Profession bestimmt. Die Evidenz habe lediglich eine dienende Funktion, sie könne belegen, auf welche Weise ein definiertes Ziel erreicht werden könne. Im Vergleich zur Akutmedizin könnten im Bereich der Rehabilitation wegen der Langwierigkeit und Mehrpoligkeit des Bemühens um funktionale Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe nur sehr schwierig Standards entstehen. Dies zeige auch das jeweilige Haftungsrecht. Gerade durch diese Komplexität und Kontextabhängigkeit sei die bestmögliche Evidenz als ein Prozess zu verstehen. Ein weiterer Unterschied zwischen der Akutversorgung und dem System des SGB IX ist nach Welti die unterschiedliche Verantwortlichkeit. In der Akutversorgung liege diese bei dem Vertragsarzt, im System des SGB IX liege die primäre Verantwortlichkeit für die Konkretisierung des Leistungsanspruchs bei den Rehabilitationsträgern (§§ 4, 10 und 19 SGB IX). Dabei könne ein genereller Weg zur Konkretisierung des Leistungsanspruchs in der Form der gemeinsamen Empfehlungen der Rehabilitationsträger liegen. Es bleibe beachtenswert, dass die Verwaltungsentscheidung im Einzelfall auch durch subjektive Präferenzen beeinflusst werde (Wunsch- und Wahlrecht, § 9 SGB IX). Generell erfolge die Verpflichtung der einzelnen Dienste und Einrichtungen durch den Rehabilitationsträger auf der Grundlage des sozialen Vertragsrechts (§ 21 SGB IX). In diesen Verträgen solle die Evidenz als Erfahrungswissen über die Ergebnisqualität bestimmter Leistungen in Form von Vereinbarungen über die Qualitätsanforderungen Berücksichtigung finden. Damit sei die Qualitätssicherung der Verknüpfungspunkt zwischen der generellen und der konkreten bestmöglichen Evidenz. Evidenzen könnten folglich auch erkennen lassen, welche Leistungserbringer ungeeignet seien. Mit diesen seien die Verträge dann zu kündigen.

Durch die Komplexität der Rehabilitationsleistungen, bei denen es nicht nur um die funktionale Gesundheit, sondern auch um Teilhabeziele gehe, müssten, so Welti, eine Vielzahl von Leistungserbringern zusammenarbeiten. Gerade deswegen liege die Verantwortung beim Rehabilitationsträger und dem von ihm aufzustellenden Teilhabeplan (§ 10 Abs. 1 SGB IX). § 10 SGB IX sei in seinem Anwendungsbereich noch nicht ausgeschöpft.

Festzuhalten bleibe einerseits, dass die Leistungserbringung ein individueller Prozess sei, der nicht das Ergebnis eines Algorithmus aus Evidenzen sein könne. Andererseits könne ohne Evidenzen über Wirksamkeit und Nutzen von Leistungen kein Leistungserbringer Leistungen zur Teilhabe anbieten und kein Gutachter Prognosen über individuelle Wirksamkeit aufstellen.

Prof. Dr. Eike Hoberg vom Klinikum Holsteinische Schweiz (Bad Malente) sprach zum Thema „Evidenzbasierung in der Praxis der Rehabilitation”. Hoberg orientierte sich bei seinem Vortrag an der kardiologischen Rehabilitation. Gerade in der Kardiologie sei die Evidenzbasierung am weitesten von allen Teilgebieten in der inneren Medizin fortgeschritten. Dies liege wohl auch an der Häufigkeit der kardiologischen Erkrankungen. Eine Alternative zur evidenzbasierten Medizin gebe es nicht.

Sie müsse aber richtig verstanden und umgesetzt werden, nämlich als die Versorgung individueller Patienten gemäß der besten zur Verfügung stehenden Evidenz. Erster Schritt einer Evidenzfindung sei der Überblick über die aktuelle wissenschaftliche Literatur zu dem konkreten klinischen Problem. Der zweite Schritt bestehe im Einsatz einfacher wissenschaftlich abgeleiteter Regeln zur kritischen Beurteilung der Validität der Studien und der Größe des beobachteten Effektes. Am Beispiel der Indikationen zur stationären und ambulanten kardiologischen Rehabilitation stellte Hoberg klar, dass der einzelne Arzt wegen der Vielfalt der zu behandelnden Erkrankungen dabei auf Leitlinien angewiesen sei. Deshalb bestehe eine Abhängigkeit von Qualität und Aktualität der zur Verfügung stehenden Leitlinien. Zusätzlich sei zu berücksichtigen, dass Leitlinien selbst bei höchstem Evidenzgrad auf Metaanalysen von Studien unterschiedlicher Designs und an hoch selektierten Kollektiven basierten. Daher sei der entscheidende dritte Schritt der evidenzbasierten Medizin, die klinische Erfahrung des behandelnden Arztes einzubringen und dabei die entsprechenden Leitlinien zu berücksichtigen. Leitlinien könnten also immer nur Hilfen bieten, nicht das auf die individuelle, oft sehr komplexe Situation des Patienten abgestimmte ärztliche Handeln vorgeben. Damit müsse es zwangsläufig zu Konfrontationen kommen, wenn Leitlinien dazu genutzt würden, die Finanzierung medizinischer Leistungen zu reglementieren. Auf diese Sorge könnten die aktuell oft kritischen Stellungnahmen führender Vertreter der deutschen Ärzteschaft zurückzuführen sein.

Konkret für die kardiologische Rehabilitation sei es von entscheidender Bedeutung, die Evidenz für die Wirksamkeit der einzelnen eingesetzten Module wie für das Gesamtprogramm umfassend wissenschaftlich zu untersuchen. Es werde derzeit eine randomisierte, kontrollierte, multizentrische Studie von der Fachgesellschaft auf den Weg gebracht.

Zusammenfassend führte Hoberg aus, evidenzbasierte Medizin stütze sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und klinische Erfahrung. Ihre Qualität sei nicht mit einfachen Mitteln zu quantifizieren.

In der Diskussion ging es um unwirksame Leistungen in der medizinischen Rehabilitation und wie die Rehabilitationsträger sich von diesen trennen könnten. Nach Raspe könne sich im SGB V von unwirksamen Leistungen getrennt werden, im SGB IX lediglich von unwirksamen Rehabilitationserbringern. Welti und Fuchs legten dar, dass es in den nach § 21 SGB IX zu schließenden Verträgen und auch in den gemeinsamen Empfehlungen möglich sei, Leistungen generell zu bewerten und es somit möglich sei, sich auch im Rahmen des SGB IX von unwirksamen Leistungen zu trennen.

Prof. Dr. Wilfried Jäckel (Abteilung Qualitätsmanagement und Sozialmedizin des Universitätsklinikums Freiburg im Breisgau, Rheumaklinik und Hochrhein-Institut Bad Säckingen) berichtete zum Thema „Der Stand von Rehabilitationsleitlinien aus Sicht der Wissenschaft”. Jäckel zeigte auf, dass immer mehr über Rehabilitation publiziert wird. Er fragte, wie neues Wissen in die Praxis transferiert und in Rehabilitationsprozessen umgesetzt werden könne. Leitlinien böten Möglichkeiten zu einer solchen Umsetzung. Man müsse sich dafür die vier Phasen einer Leitlinienfindung deutlich machen. Erst müsse systematisch Literatur recherchiert werden, danach müsse eine Analyse der derzeitigen Rehabilitationspraxis stattfinden, folgen müsse eine schriftliche Befragung von Experten und schließlich bedürfe es einer Experten-Konsensuskonferenz. Zur ersten Phase zeigte Jäckel auf, dass durchaus Bedarf an speziellen Publikationen zur Rehabilitation bestehe. Auch gebe es bisher keine deutsche Leitlinie für umfassende Rehabilitation bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen, und in den internationalen Leitlinien würden nicht alle wesentlichen Inhalte der Rehabilitation berücksichtigt. Es gebe gute Evidenzen bei Therapiemaßnahmen zum Teil aus anderen Studien; es müsse dafür aber die Rehabilitation flexibilisiert werden. Für die zweite Phase legte Jäckel anhand einer Stichprobenstruktur von Rehabilitationsmaßnahmen aus dem Jahr 2001 mit der Hauptdiagnose Kreuzschmerz dar, dass eine große Variabilität bestehe, jeweils different bei den Leistungserbringern.

Jäckel zeigte dann die Aktivitäten der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW) auf und wies auf die Kommission „Leitlinien” hin. In ihr gebe es eine Steuerungsgruppe und indikationsspezifische Arbeitsgemeinschaften. Aufgabe der Kommission sei es, die Leitlinien zu bewerten, andere Institutionen bei der Erstellung von Leitlinien zu beraten und als Ansprechpartner für die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaft (AWMF) und das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) zu fungieren.

Bei der Bewertung von Leitlinien gelte es eine umfangreiche Checkliste abzuarbeiten, in der etwa Ziele der Rehabilitation, Interdisziplinarität oder psychosoziale Aspekte beachtet werden müssten. Indikationsleitlinien zur Rehabilitation seien zu Diabetes mellitus und zu Kreuzschmerz in Arbeit. Es müsse ein Raster von Körperstrukturen, Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe definiert werden.

In der Kooperation mit der ÄZQ bedürfe es einer Überarbeitung der Checkliste zur Bewertung von Leitlinien, welche auf den Kriterien nach Appraisal of Guidelines for Research and Evaluation (AGREE) basiere. Diese böten in sechs Domänen 23 Kriterien, z. B. Geltungsbereich und Zweck (3 Kriterien), Beteiligung von Interessengruppen (4 Kriterien), Anwendbarkeit (3 Kriterien), sowie ein deutsches Zusatzmodul mit 6 Kriterien. Im Zusammenhang von Leitlinien und Qualitätssicherung müsse schließlich die Einhaltung der Leitlinien überprüft werden.

Dr. Hans-Günter Haaf aus der Rehabilitationswissenschaftlichen Abteilung des VDR berichtete über Rehabilitationsleitlinien aus Sicht der Rehabilitationsträger. Zuerst kam Haaf auf die Bedeutung von evidenzbasierten Leitlinien für die Rehabilitation zu sprechen. Sie sollen zu einer besseren rehabilitativen Versorgungspraxis, einer effektiveren Nutzung der begrenzten Ressourcen und mehr Transparenz für Patienten führen. Das Reha-Leitlinien-Programm der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) sei in die Qualitätsaktivitäten der Deutschen Rentenversicherung eingebunden, solle eine Evaluation der Qualität der therapeutischen Prozesse bewirken und zu einem einheitlichen Ablauf der Prozesse führen. Verschiedene Indikationen seien in Auftrag gegeben oder geplant.

Eine Leitlinie entstehe in drei Phasen. Zuerst werden in Form einer Literaturanalyse eine idealtypische Rehabilitation bestimmt, wirksame Verfahren identifiziert und evidenzbasierte Therapiemodule (ETM) definiert. In der zweiten Phase werden eine Beschreibung des Ist-Zustandes und ein Soll-Ist-Vergleich anhand einer KTL-Analyse durchgeführt. Ziele seien die Evaluation der aktuellen Praxis und deren Leitlinientreue innerhalb der einzelnen Module der Bedarfsanalyse. Dies erfolge unter anderem durch einen Vergleich der Versorgungsrealität mit Vorgaben aus der wissenschaftlichen Literatur. Die dritte Phase beinhalte die Konkretisierung der idealen Elemente in Form einer schriftlichen Befragung aller am Rehabilitationsprozess beteiligten Berufsgruppen. Sodann seien die Fragebogen auszuwerten und die Reha-Leitlinie vorzustrukturieren, um dann die Vorgaben für die Leitlinie zu operationalisieren. Schließlich gehe es darum, die Leitlinieninhalte im Konsens im Expertenworkshop zu erarbeiten und zu verabschieden. Haaf erläuterte als Beispiel ein ETM zum Ausdauertraining aus der Leitlinie für koronare Herzerkrankungen.

Haaf stellte weitere Projekte der Rentenversicherung zu Reha-Leitlinien vor. So sei zum Beispiel bereits eine Leitlinie zur medizinischen Rehabilitation nach lumbaler Bandscheibenoperation entwickelt worden. Nun gehe es um die Aktualisierung und Implementation der Leitlinie von 1996. Bemerkenswert sei zudem, dass ein „klinischer Algorithmus” Gerüst der Leitlinie sei und sie exemplarisch in ausgewählten Rehabilitationskliniken implementiert werde.

Als Fazit legte Haaf dar, dass das Reha-Leitlinienprogramm evidenzbasiert, konsensusorientiert und praxisrelevant sei. Es verringere die Varianz der Leistungen und verbessere die Versorgungspraxis. Außerdem füge es sich in das Qualitätssicherungsprogramm ein und werde der Legitimation der Rehabilitation nutzen. Im Ausblick stellte der Referent klar, dass die Rentenversicherung die evidenzbasierte Leitlinienentwicklung für die Rehabilitation weiterhin fördern werde. Es sollen alle Rentenversicherungsträger einbezogen und weitere Projekte zur Entwicklung von Leitlinien unterstützt werden.

In der Diskussion wurde kritisch nachgefragt, ob die Teilhabeziele des SGB IX Berücksichtigung fänden, ob es für die Leitlinienentwicklung zur Teilhabe eines anderen Verfahrens bedürfe und inwieweit die besprochenen Leitlinien im Rahmen des BfA-Programms überhaupt Leitlinienqualität haben. Außerdem war umstritten, an welchem Punkt und inwieweit Leitlinien bei der Leistungserbringung rechtlich einbezogen werden müssten oder könnten.

Sodann referierte Prof. Dr. Hans-Konrad Selbmann vom Institut für Medizinische Informationsverarbeitung der Universität Tübingen und in der AWMF verantwortlich für „Qualitätssicherung von Leitlinien”. Zuerst stellte Selbmann eine Definition von Leitlinien vor. Danach seien Behandlungsleitlinien systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben und den behandelnden Ärzten und ihren Patienten die Entscheidungsfindung für eine angemessene Behandlung spezifischer Krankheitssituation erleichtern sollen. Aus juristischer Sicht ergebe sich, dass der für Ärzte verbindliche medizinische Standard auch rechtlicher Standard sei. Medizinischer Standard sei der jeweilige Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, der zur Erreichung des Behandlungsziels erforderlich sei und sich bewährt habe. Je besser die fachlichen Anforderungen von einer Leitlinie erfüllt würden, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass eine Leitlinie dem medizinischen Standard entspreche. Selbmann zeigte die Entstehung einer Leitlinie auf: Entwurf, kritische Bewertung und Entscheidung, Verbreitung, Implementierung und Evaluierung und zuletzt Fortschreibung. Dabei bestehe auf der Ebene der kritischen Bewertung und Fortschreibung eine interne Validität, die hier die Qualitätssicherung sei. Weiter legte Selbmann dar, was für ihn gute Leitlinienentwicklung ausmache. Messbar sei eine gute Leitlinie anhand der erreichten internen Validität und der Hilfen für eine Implementierung. Kriterien für eine gute interne Validität seien systematische Evidenzbasierung, strukturierte Konsensfindung, Interdisziplinarität und ein bewertungsfähiger Leitlinienreport. In der strukturierten Konsensfindung gelte es, Evidenzen klinisch bezüglich ihrer Verwendbarkeit in einer Leitlinie zu bewerten und zu manipulationsfreien und reproduzierbaren Ergebnissen zu kommen. Wichtige Hilfen für die Implementierung seien ein Plan für die Verbreitung mit einer Integration in Aus-, Weiter- und Fortbildung, Leitlinienversionen für Experten, Anwender und Patienten und ein leichter Zugang für Interessenten.

Selbmann kam dann auf die Klassifikation von Leitlinien im Sinne der AWMF zu sprechen. Es gebe vier Typen von Leitlinien. Der kleinste Typ sei eine Handlungsempfehlung von Experten (S1), darüber stehe eine konsensbasierte (S2k) und eine evidenzbasierte Leitlinie (S2e) und höchster Typ sei die evidenz- und konsensbasierte Leitlinie (S3). Anhand eines Schaubildes verdeutlichte Selbmann die Qualitätsentwicklung von Leitlinien, wobei die S3-Leitlinien prozentual am stärksten zuzunehmen scheinen. Des Weiteren verwies er auf die methodische Qualität von Leitlinien und nannte AGREE (Appraisal of Guidelines Research and Evaluation), das Deutsche Instrument zur methodischen Leitlinienbewertung (DELBI) der AWMF und des ÄZQ.

Selbmann kam dann auf externe Validität, Implementierung und Evaluierung der Leitlinien zurück und zeigte Barrieren und deren Überwindung auf. Zum Beispiel könne mangelndes Wissen durch eine kognitive Theorie behoben werden, fehlende Anreize und Rückmeldungen durch eine Verhaltenstheorie oder Systemmängel durch eine Organisationstheorie. Außerdem zeigte Selbmann Interventionen zur Erreichung einer dauerhaften Verhaltensänderung auf, wie etwa den Besuch von Berufskollegen (Peers) vor Ort oder eine interaktive Förderung. Zur Implementierung sei auch hilfreich, Methoden und Verfahren für die lokale Anpassung zu benennen oder klinische Messgrößen zur Messung der Prozess- und Ergebnisqualität einzuführen.

Als Fazit nannte Selbmann, dass die Qualitätssicherung von Leitlinien nach DIN EN ISO 9000 die Darlegung ihrer Validität sei. Die interne Validität messe die Konformität der Leitlinie mit den Vorgaben für gute wissenschaftliche Leitlinienerstellung. Die externe Validität messe die Erreichung der Ziele der Leitlinie aus dem und in dem Versorgungsalltag. Beide müssten mit Augenmaß belegt (evident) werden.

Prof. Dr. Robert Francke (Institut für Gesundheits- und Medizinrecht der Universität Bremen) sprach über „Leitlinien als Rechtsquelle”. Francke zeigte zuerst den rechtlichen Status von Leitlinien auf. Leitlinien seien professionelle verbandliche Normen medizinischen Handelns oder private Normen, die nicht öffentlich, staatlich verbindlich gemacht, aber dennoch Normen seien. Eine rechtliche Verbindlichkeit entstehe durch rechtliche Rezeption im Zivilrecht oder im Sozialrecht. Leitlinien fänden hauptsächlich Anwendung in der klinischen Praxis. Die Leitlinienqualität sei abhängig von professionell richtigen (sachgerechten) Kriterien und geeigneten Verfahren. Es sei rechtlich die Leistung geboten, die medizinisch geboten sei. Der medizinische Standard definiere also den rechtlichen Standard guter medizinischer Behandlung. Die Relevanz von Leitlinien für die individuelle Behandlungsentscheidung finde im Haftungsrecht und im Sozialrecht Eingang. Leitlinien könnten zwar rechtlich verbindlich werden; dies sei aber nicht zu erwarten, da sie zu statisch und unflexibel seien. Leitlinien seien vielmehr eine Wissensbasis. Sie seien ein Element des Normsetzungsermessens. Je höher ihre Qualität, desto stärker sei das Gewicht in der Normsetzung. So sei die praktische Bedeutung des Rezeptionsmodells hoch.

Francke kam dann auf die medizinischen Voraussetzungen für die Rehabilitationsentscheidung zu sprechen, die er mit den tradierten Begriffen der Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und Rehabilitationsprognose bezeichnete. Medizinische Leitlinien zur Rehabilitation bedürften des medizinischen Standards und der Prognosekriterien. Der medizinische Standard solle sich zusammensetzen aus der bestmöglichen wissenschaftlichen Evidenz, der beruflichen Erfahrung und dem Konsens der Professionen. Die Prognosekriterien sollten, soweit es einen Standard gebe, mit dem Standardbegriff übereinstimmen. Außerdem müsse das Verfahren für medizinische Leitlinien zur Rehabilitation Transparenz, professionelle Pluralität und Neutralität beinhalten.

Die Voraussetzungen einer rechtlich relevanten Rehabilitationsleitlinie seien die Berücksichtigung bestmöglicher Evidenz, die berufliche Erfahrung und der Konsens der Professionen zu den drei Kriterien der Rehabilitationsbedürftigkeit, -fähigkeit und -prognose sowie ein transparentes und neutrales Verfahren mit einer professionellen Pluralität. Leitlinien, welche diese Voraussetzungen nicht erfüllen würden, könnten lediglich als Erkenntnisquelle unter vielen dienen. Folglich sei die praktische Bedeutung der rechtlich relevanten Leitlinie hoch, soweit die Voraussetzungen erfüllt seien.

In der Schlussdiskussion kam zuerst Hoberg zu Wort. Er betonte, es sei die Aufgabe der medizinischen Forschung Ziele für die Patienten darzustellen. Er fragte, wozu Leitlinien gebraucht würden, wenn sie sowieso nur den medizinischen Standard wiedergeben. Francke fügte hinzu, dass der medizinische Standard die Grundlage für die Leistungsgewährung sei; daher könne die Leitlinie nicht besser sein als der Standard. Im Übrigen seien Evidenzbasierung und Leitlinien ungleich, Leitlinien machten das Lehrbuchwissen handhabbar und seien somit Hilfsmittel und nicht Erkenntnismittel. Welti wies darauf hin, dass die Erkenntnis der Sozialmedizin auch Teilhabeziele beurteilen könne. Bei der Einbeziehung beruflicher und sozialer Rehabilitation stoße die Sozialmedizin aber an Grenzen. Mindestens wenn eine Leitlinie über die medizinische Rehabilitation hinausgehe, müssten andere Professionen hinzugezogen werden. Fuchs fügte hinzu, dass es bei Akutversorgung um Methodenwirksamkeit ginge, bei der Rehabilitation seien die erreichten Ziele entscheidend. Im Übrigen solle keine Rehabilitationsprognose, sondern eine Teilhabeprognose erstellt werden; die Wirksamkeit von Leistungen beziehe sich auf Teilhabeziele und nicht auf Methoden. Außerdem sei seit Juni 2001 die medizinische Sicht nur noch ein Modul der Teilhabeleistung. Es gelte endlich den Paradigmenwechsel zu erkennen. Raspe wollte das Verhältnis von Rehabilitation und Medizin klargestellt wissen, letztlich gehe es immer noch um Krankheit und Behinderung. Die Rehabilitation habe mit den Folgen von beiden zu tun. Da man von diesen Folgen ausgehen müsse, brauche man die Medizin als zentrale Grundlage, aber dies natürlich in Hinblick auf die neuen Teilhabeziele. Raspe meinte, eine Leitlinie, welche nur den medizinischen Standard wiedergebe, sei unnötig. Die Leitlinie sei aber differenzierter. Außerdem könne der Standard auch weiter sein als die Leitlinie. Selbmann führte aus, dass es keine Rehabilitation ohne Ziel gebe. Die Zielvorstellung müsse nicht somatisch sein, denn Ziel sei die Teilhabe, die Ziele müssten messbar und konsensfähig sein. Die Leitlinien enthielten im Übrigen Entscheidungspositionen und seien gut begründet durch den Konsens der Profession und die Evidenzbasierung. Zudem müssten die Patienten in die Gestaltung der Rehabilitation mit einbezogen werden. Francke erwähnte, dass der medizinische Standard nötig, er folglich nicht aufzugeben sei.

Die Veranstaltung zeigte insgesamt einen bemerkenswerten Konsens zwischen den anwesenden Vertretern der Rechtswissenschaft und der Medizin über die Relevanz bestmöglicher Evidenz für die Konkretisierung sozialrechtlicher Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe. Differenzen bestanden insbesondere bei der Gewichtung und Operationalisierung von Teilhabezielen im Rahmen dieses Prozesses. Hier wird eine weitere Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der sozialmedizinischen Kompetenz und die Rolle der Leistungsberechtigten und der Leistungsträger bei der Definition von Teilhabezielen und der Mittel zu ihrer Erreichung notwendig sein.

PD Dr. Felix Welti

Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der CAU

Olshausenstraße 40

24098 Kiel

Email: fwelti@instsociallaw.uni-kiel.de

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