Gesundheitswesen 2005; 67 - 2
DOI: 10.1055/s-2005-865524

Demographischer Wandel als Herausforderung für den ÖGD: Wie können wir unsere Zukunft gerecht gestalten?

H Brand 1
  • 1Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW (lögd), Bielefeld

Hintergrund:

Der ÖGD sieht sich traditionell als eine Institution mit starkem Bezug zur sozialen Gerechtigkeit. Begriffe wie „anwaltliche Funktion“ und „sozialkompensatorische Aufgaben“ spiegeln dies wider. Anbetracht der Herausforderungen demographischen Wandels erscheint eine Standortbestimmung des ÖGD dringend, um den ÖGD gerecht und zukunftsfähig aufstellen zu können.

Herausforderungen für den Alltag des ÖGD:

Wie ist das Spannungsverhältnis zu gewichten, dass der Anteil von jungen Menschen im Gegensatz zu alten Menschen immer geringer wird? Bedeutet dies, die Ressourcen gerade auf die Jungen zu lenken, um ihnen beste Startchancen zu geben und so auch zu ermöglichen, generationengerecht Leistungen für die Alten erbringen zu können? Folgt man dieser Argumentation, müsste man gerade den Kinder- und Jugendärztlichen Dienst ausbauen, um noch besser bei Kindern Fehlentwicklungen und Gesundheitsgefährdungen zu erkennen.

Oder bedeutet es, den jugendärztlichen Dienst abzubauen und sich eher auf die Versorgung der älteren Bürger im Sinne des Aufbaus eines Seniorenärztlichen Dienstes zu konzentrieren? Was genau würde eine Fokussierung des ÖGD auf die älteren Mitbürger verlangen – eine rein quantitative Aufstockung der Heimüberwachung oder aber eine qualitative Neuentwicklung von Versorgungskonzepten?

Ein demographischer Wandel hin zu einer älteren Gesellschaft kann und wird auch zu einem gewissen Teil durch Migration abgefedert werden. Dem ÖGD obliegt hierbei die besondere Aufgabe, auch für Migranten faire Zugänge zum Gesundheitssystem zu gewährleisten – beispielsweise durch eine verbesserte Wegweiserfunktion. Sich dadurch verstärkende kulturellere Vielfalt erfordert ebenso besondere Antworten des ÖGD: Braucht der ÖGD erweiterte „Dolmetscherdienste“, um gesundheitliche Probleme von Zuwanderern wirklich zu verstehen? Müssen mehr muslimische Ärzte im ÖGD eingestellt werden bzw. die Ärzte im ÖGD vermehrt kulturell geschult werden?

Die Einsicht, dass nicht mehr alle medizinischen Leistungen für alle unbeschränkt solidarisch gezahlt werden können, lässt – so kann man gegenwärtig beobachten – eine Betonung auf Eigenvorsorge folgen. Demographischer Wandel lässt dabei noch mehr Bedarf an medizinischen Leistungen für ältere Menschen erfolgen. Durch Öffnung der medizinischen Versorgungsstrukturen und konkurrierende Angebote auf dem (Medizin-)Markt kann man bei medizinischen Leistungen eine zunehmende Ökonomisierung beobachten. Durch die verstärkte Einforderung von Eigenvorsorge wird insbesondere das Angebot nicht evidenzbasierter medizinischer Leistungen kommerzialisiert (Stichwort: individuelle Gesundheitsleistungen (IGEL)). Im Bereich der Arzneimittelüberwachung erfolgt hier bereits eine „Ordnungsfunktion“ durch den ÖGD. Wie wird bei diesen Entwicklungen seine zukünftige Rolle im gesundheitlichen Verbraucherschutz bezüglich medizinischer und wellnessbezogener Leistungen definiert werden?

Weitere Probleme ergeben sich durch die Vergreisung bestimmter Regionen. Diese lässt eine flächendeckende Versorgung mit z.B. Hausärzten schwierig werden. Was passiert, wenn es den Kassenärztlichen Vereinigungen trotz Sicherstellungsauftrag nicht gelingt für eine flächendeckende hausärztliche Versorgung zu sorgen? Muss dann der ÖGD seine Angebote in diesen Regionen im Sinne seiner Sozialkompensatorischen Funktion ausweiten? Was früher „Armenmedizin“ war, ist in der Zukunft dann die aufsuchende erste Hilfe in verödeten Landstrichen? Was bedeutet der demographische Wandel für eine neue Altersarmut? Und wie wirkt sich dann diese soziale Ungleichheit auf die Gesundheit der älteren Menschen aus? Wie können die Kommunen auf diese Herausforderungen reagieren?

Ausblick:

Die aufgeworfenen Fragen zeigen, dass der ÖGD sich auch vor dem Hintergrund demographischen Wandels verstärkt mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit beschäftigen muss. Gehaltvoll ausbuchstabierte Gerechtigkeit kann uns hier Kriterien an die Hand geben, die uns helfen, den ÖGD menschlich, vernünftig und zukunftsfähig zu gestalten.